Eleonore Lappin-Eppel: Ungarisch-Jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45. Arbeitseinsatz - Todesmärsche - Folgen (= Austria: Forschung und Wissenschaft - Geschichte; Bd. 3), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2010, 540 S., 1 Karte, ISBN 978-3-643-50195-0, EUR 39,90
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Die Verfolgung und Ermordung der ungarischen Juden wird vor allem mit dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau assoziiert. Doch spielte sich dieses "letzte Kapitel" (Götz Aly/Christian Gerlach) des Holocaust nicht nur dort ab. Nach der deutschen Besatzung Ungarns am 19. März 1944 wurden mehrere Zehntausend ungarische Juden in das Deutsche Reich verschleppt. Etwa 23.000 von ihnen wurden auf österreichischem Boden ermordet.
Der Geschichte der nach Österreich deportierten Juden widmet sich seit den 1990er Jahren die österreichische Historikerin Eleonore Lappin-Eppel, die nun mit ihrer Habilitationsschrift Ungarisch-Jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45. Arbeitseinsatz - Todesmärsche - Folgen eine umfangreiche Zusammenfassung ihrer Forschungsergebnisse vorlegt. Dabei beschreibt sie jüdische Zwangsarbeit in Österreich als eigenständigen Teil des Holocaust und rückt das Schicksal der nach Österreich verschleppten ungarischen Juden in das Blickfeld der Forschung.
Nach einer kurzen Einführung in die Geschichte Ungarns seit 1938 wird im ersten Teil der Arbeit der Weg jener 18.000 jüdischen Männer, Frauen und Kinder beleuchtet, die schon im Frühjahr und Sommer 1944 ins österreichische Lager Strasshof/Nordbahn verschleppt und anschließend im Raum Wien Zwangsarbeit leisten mussten. Vor allem mit Hilfe individueller Berichte zeichnet Lappin-Eppel die Arbeits- und Lebensbedingungen der Strasshofer "Austauschjuden" nach. Im zweiten Teil der Untersuchung steht das Schicksal jener rund 50.000 Männer und Frauen in Vordergrund, die zwischen Oktober 1944 und März 1945 in Westungarn bzw. in den Gauen Niederdonau und Steiermark beim Bau einer Befestigungsanlage eingesetzt waren, die das Vorrücken der sowjetischen Armee nach Wien stoppen sollte ("Südostwall"). Die Autorin schildert die Bedingungen in den einzelnen Bauabschnitten und in den wichtigsten Lagern und betont, dass "entlang dem Südostwall Vernichtung durch Arbeit betrieben wurde" (209). Damit ordnet sie den Arbeitseinsatz an der österreichisch-ungarischen Grenze als Teil eines Gesamtplans der "Endlösung" ein. Die Massaker an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern, wie beispielsweise in Rechnitz oder in Deutsch Schützen, rekonstruiert Lappin-Eppel vor allem mit Hilfe von Gerichtsdokumenten und wirft dabei auch einen kritischen Blick auf die juristische Ahndung der Verbrechen nach 1945. Im letzten Teil ihrer Arbeit skizziert die Autorin die "Evakuierungstransporte" und Todesmärsche der "Südostwall-Juden" in den Konzentrationslagerkomplex Mauthausen. Die Beschreibung der Gewalttätigkeiten bei den "Evakuierungen" macht einmal mehr deutlich, dass in dieser späten Phase des Krieges nicht mehr allein höhere NS-Funktionäre, sondern primär die Bewacher mit niedrigen Rängen über das Schicksal der jüdischen Deportierten entschieden.
Insgesamt versucht Lappin-Eppel, drei Ebenen miteinander zu kombinieren: Sie skizziert den institutionellen Hintergrund und will die organisatorischen Abläufe aufzeigen, sie beschreibt die Personen, die an antijüdischen Maßnahmen und konkreten Verbrechen beteiligt waren und bezieht dabei die Perspektive der Opfer mit ein. Doch gelingt dem Buch eine Verknüpfung dieser drei Ebenen zu einer "integrierten Geschichte" (Saul Friedländer) nur bedingt. Die Beschreibung der strukturellen Entscheidungen und der politischen Vorgänge bildet lediglich den Rahmen für die Darstellung der individuellen Erfahrungen, sie werden nicht in diese eingebettet und die beiden Aspekte nicht miteinander verknüpft. Da die Bedeutung der letzten Kriegsphase, für die der Zusammenbruch der Kontroll- und Befehlsmechanismen charakteristisch waren, nicht ausdrücklich herausgearbeitet wird, bleibt letzten Endes auch der Blick auf die Gruppe der Täter unscharf. Vor allem über die Motivation der Mörder - auch von Mitgliedern der NS-Führungselite wie beispielsweise Heinrich Himmler, der heimlich mit den Alliierten über die Freilassung ungarischer Juden im Austausch gegen kriegswichtiges Material verhandeln ließ - wird man im Unklaren gelassen. Und auch die Rolle der österreichischen Bevölkerung erscheint widersprüchlich: Einerseits verweist Lappin-Eppel auf zahlreiche Hilfsaktionen und betont, dass "die Menschlichkeit der ÖsterreicherInnen enorm wichtig für die Moral der Deportierten [war], da sie der nationalsozialistischen Politik der Entwürdigung jüdischer Menschen zuwiderlief" (122). Andererseits schildert die Autorin Massaker, die von der österreichischen Bevölkerung meist teilnahmslos zur Kenntnis genommen wurden bzw. an denen Teile der Bevölkerung beteiligt gewesen waren. Da gerade diese Widersprüchlichkeiten den Kern der Endphasenverbrechen ausmachen, hätte die Einbeziehung des Kriegsendes als Analysekategorie interessante Ergebnisse zur Frage der Mittäterschaft und der Handlungsspielräume liefern können. Schließlich wird die spezifische Qualität der Verbrechen der letzten Kriegsphase heute nicht nur darin gesehen, dass sie zum Teil neue Tätergruppen umfassten, sondern dass die Verbrechen für jedermann sichtbar waren und damit nicht nur unterschiedliche Reaktionen nach sich ziehen konnten, sondern auch größere Teile der Bevölkerung miteinbezogen. [1]
Die Quellengrundlage der Arbeit bilden individuelle Berichte von Überlebenden und Akten der Nachkriegsjustiz. Auf dieser Basis gelingt es der Autorin zwar, die Vielschichtigkeit der Arbeits- und Lebensbedingungen sichtbar werden zu lassen. Problematisch ist allerdings, dass sie die nach 1945 entstandenen Dokumente nicht quellenkritisch hinterfragt. Eine methodologische Einleitung mit einer kritischen Reflektion der herangezogenen Quellengattungen fehlt ebenso wie eine konkrete analytische Fragestellung oder ein Resümee, das die Thesen der Untersuchung zusammenfasst. Lappin-Eppel geht stattdessen deskriptiv vor, der Gehalt der herangezogenen Quellen wird nur selten analytisch ausgeschöpft. Hinzu kommt, dass ein Großteil der herangezogenen Einzelbiographien von Personen stammen, die zum Zeitpunkt ihrer Verfolgung Jugendliche oder Kinder waren. Da die Autorin zudem auf Grund fehlender Sprachkenntnisse ungarische Quellen allenfalls in Übersetzungen einbeziehen kann, stehen ihr in erster Linie deutsch- und englischsprachige Erinnerungsberichte und Interviews zur Verfügung. Damit kann sie nur eine begrenzte Sicht auf die Verfolgung gewinnen.
Trotz dieser Mängel füllt die Monographie von Eleonore Lappin-Eppel nicht nur eine Forschungslücke, sondern wird zweifelsohne ein Nachschlagewerk für all jene werden, die sich mit dem Schicksal der ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter in Österreich auseinandersetzen. Die übersichtliche thematische Gliederung und Strukturierung nach Zwangsarbeitslager bietet eine gute Orientierung für den Leser. Von besonderem Wert sind die fünf abgedruckten Karten, die verschiedene "Evakuierungsrouten", "Todesmärsche" und Rückzugsrouten darstellen und die Forschungsergebnisse von Lappin-Eppel mit außerordentlicher Sorgfalt graphisch abbilden. Sehr aufschlussreich sind Lappin-Eppels Exkurse in die österreichische Nachkriegsgeschichte, die interessante Einblicke in den österreichischen Umgang mit der Ermordung der Juden und insbesondere in die gerichtliche Ahndung von NS-Verbrechen bieten.
Anmerkung:
[1] Vgl. Cord Arendes / Edgar Wolfrum / Jörg Zedler (Hgg.): Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 2006.
Regina Fritz