Marek Winiarczyk: Die hellenistischen Utopien (= Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 293), Berlin: De Gruyter 2011, XX + 362 S., ISBN 978-3-11-026381-7, EUR 109,95
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Ideale Gesellschaftsordnungen sind ein uralter Traum der Menschheit, und es nimmt kein Wunder, dass das Ziel, eine bessere Gesellschaft zu schaffen, nicht nur politische Theorien und Modelle en masse hervorgebracht, sondern auch literarisch seinen Niederschlag in Form der Utopie gefunden hat. Während jedoch die politischen Programme wenigstens im Kern den Anspruch auf Umsetzung in Realität erheben und mal mehr, mal weniger erfolgreich auch umgesetzt wurden und werden, streben die literarischen Utopien nicht nach Verwirklichung, sondern sind sich des von ihnen entworfenen "guten" Staates (Eu-topia) als an "keinem" Ort der Welt (Ou-topia) durchführbaren Experimentes bewusst. So jedenfalls eine mögliche und gängige doppelte Herleitung des Begriffs "Utopie" aus der Schrift "Libellus vere aureus nec minus salutaris quam festivus de optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia" des Lordkanzlers Heinrichs VIII., Thomas Morus (1478-1535), welche die moderne Forschung heute vertritt. [1]
Dass es solche Utopien bereits vor der Begriffsbildung durch Thomas Morus gegeben hat, ist Allgemeinplatz, ebenso, dass die Antike solche literarischen Idealentwürfe kannte, man denke nur an Platons Idealstaat oder auch an dessen Beschreibung der Stadt Atlantis als prominenteste Beispiele. Indes tut sich die Forschung gerade wegen der späten Begriffsbildung schwer, die weiteren Ideal- und Phantasiebilder von Gesellschaften, die sich zu Hauf in der antiken Literatur finden, differenziert zu betrachten; zu schnell ist man bei dem anscheinend alles umfassenden Begriff "Utopie" angelangt, der hingegen mehr die Unterschiede zwischen den inhaltlichen Darstellungen verwischt denn präzisiert.
Diesem Umstand entgegenzuwirken, ist nun der polnische Altertumsforscher Winiarczyk mit seiner beeindruckenden Studie zu den literarischen Idealbildern in der hellenistischen Epoche angetreten. Der Titel "Die hellenistischen Utopien" ist dabei insofern irreführend, als dass Winiarczyk die hier näher untersuchten Autoren / Werke gerade nicht der Utopie im engeren Sinne (sensu stricto) zuordnet. Diese Kategorie ist nämlich nach seiner Definition auf den "Staatsroman", die politische Utopie, beschränkt, wie er im einführenden Teil (1-27, bes. 11f.) darlegt. Davon scheidet er strikt die Utopie sensu lato, in der literarische Beschreibungen von Völkern und Gegenden mit utopischen Motiven à la phantastisch-mythischen Träumen und Sehnsüchten durchsetzt sind, was seiner Meinung nach für alle literarischen Darstellungen jenseits von Platon und den (nicht erhaltenen) Gegenentwürfen der Kyniker und Stoiker zutrifft.
Da Utopie im weiteren Sinn für ihn zudem eine inhaltliche, keine gattungsspezifische Definition ist, kann er sich im Folgenden sechs zum Teil ganz unterschiedlichen Autoren / Werken widmen, die allesamt nur fragmentarisch bzw. über Testimonien erhalten sind. Dabei geht er stets so vor, dass er zunächst jeweils kritisch Leben, Werk, Quellen des jeweiligen Autors in den Blick nimmt und darauf aufbauend einen eigenen Interpretationsversuch in Auseinandersetzung mit den von der Forschung vorgebrachten Deutungsansätzen wagt.
Für Theopomp von Chios, einen Historiker des 4. Jahrhunderts v.Chr., arbeitet Winiarczyk heraus, dass dessen Meropis-Exkurs im achten Buch der "Philippika" nicht so sehr einer Darstellung eines idealen Naturvolkes (die Bewohner der Stadt Eusebés) bzw. deren Widerparts (die kriegerischen Machimoi) denn der Unterhaltung der Leserschaft bei gleichzeitiger polemisierender Kritik an den Dialogen Platons verpflichtet war, eventuell auch Allegorisches über das menschliche Schicksal mitlieferte (29-44).
Den Hauptzweck "Unterhaltung" konstatiert Winiarczyk auch für die Darstellung der Insel Helixoia im fiktiven Reiseroman "Peri Hyperboreōn" aus der Feder des Hekataios von Abdera aus dem späten 4. Jahrhundert v.Chr. (45-71). Hier seien vielmehr seit Homer gängige Motive über das sagenhafte Volk der Hyperboreer in eine neue literarische Form gekleidet worden.
Auch in der Beschreibung des Landes des Musikanos durch Onesikritos in dessen Schrift "Die Erziehung Alexanders" sieht Winiarczyk keine Utopie sensu stricto vorliegen (73-115). Der Teilnehmer am Alexanderzug habe in seiner Darstellung des indischen Landes Selbsterlebtes mit Topoi und Idealmotiven aus der griechischen Literatur über diese ferne Landschaft verwoben und damit sowohl Alexander als Kulturbringer als auch sich selbst hervorheben wollen. Insofern seien denn auch alle diesem Zweck zuwiderlaufenden politischen Entwicklungen, so der Abfall des Musikanos von Alexander, bewusst ausgeblendet worden.
Der längste Part der Studie widmet sich dem utopischen Roman "Hiera Anagraphē" des Euhemeros, enstanden wohl an der Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert v.Chr. (117-180). Hier hat Winiarczyk bereits selbst umfangreiche Vorarbeiten in Form einer Teubner-Ausgabe zu den Testimonien sowie einer Monographie geleistet, deren Ergebnisse er nun in verkürzter Form und zugeschnitten auf die Fragestellung präsentiert. [2] Seiner Meinung nach ist die mit utopischen und locus amoenus-Motiven durchsetzte Beschreibung der Insel der Panchaia nur als Rahmen zu verstehen, in den Euhemeros seine Erklärung der Entstehung der olympischen Religion als Entwicklung von ursprünglich verehrten menschlichen Herrschern namens Uranos, Kronos und letztlich Zeus einbettete. Gleichzeitig habe er damit für die Menschen in den hellenistischen Königreichen auch eine Erklärung für die Herrscherkulte geliefert.
Ebenso für keine politische Utopie, sondern für einen fiktiven Reiseroman hält Winiarczyk die Sonneninsel des Jambulos (181-203), die mit einer idealisierten Land- und Gesellschaft aufwartet. Alle modernen Datierungsversuche sowie Interpretationsansätze, die unter anderem auf einen realen Reisebericht oder einen politischen Gegenentwurf schließen wollten, lehnt er mit überzeugenden Argumenten ab. Gleichsam kann er begründete Zweifel an der These wecken, die Sonnenmotive bei Jambulos hätten den Aristonikos-Aufstand (133-129 v.Chr.) [3], vor allem die ideologische Benennung der Aufständischen als "Heliopoliten" beeinflusst.
Fern jeder Umsetzung eines utopischen Ideals ist für Winiarczyk abschließend auch die Gründung von Uranopolis durch Alexarchos um 316 v.Chr. (205-218). Überzeugend kann er darlegen, dass Uranopolis keinen Idealstaat, sondern eine in den hellenistischen Diadochenkämpfen erfolgte politische Gründung dargestellt habe. Das Helios-Kostüm des Alexarchos interpretiert er einsichtig als Ausdruck der Anhängerschaft um den Arzt Menekrates von Syrakus, der Alexarchos von Epilepsie geheilt habe. Insofern sei auch hier eine Verbindung zum späteren Aristonikos-Aufstand unwahrscheinlich.
Winiarczyk gelingt es in seiner dichten, von umfassender Kenntnis der Quellen wie Sekundärliteratur strotzenden Studie damit in beeindruckender Manier, den Finger in die zahlreichen Wunden, die moderne Forschungswut geschlagen hat, zu legen und den objektiven, teils ernüchternden Sachstand zu den einzelnen Autoren / Werken wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die Rückführung der Darstellungen auf gängige Motive der griechischen Literatur und die unterschiedlichen Beweggründe für das Verfassen der einzelnen Beschreibungen lassen seine Begriffsdifferenzierung von Utopie sensu stricto (= Staatsutopie) und sensu lato (= utopische Motive) als durchaus gelungen erscheinen.
Indes wirkt gerade letztere Definition beim Anblick der vorzüglichen wie hilfreichen Appendizes zu utopischen Motiven und Inseln in der antiken Literatur (231-265) sowie den stetigen Hinweisen auf das Vorkommen dieser Motive in der griechischen Literatur allgemein noch zu unkonkret, da zu breit angelegt. Hier müsste sicherlich noch strenger zwischen einzelnen Motivausprägungen geschieden werden, da phantastische Länderbeschreibungen und idealisierte Lebensverhältnisse kaum unter einen Hut zu bekommen sind. [4] Inwiefern gerade letztere als Spiegel des gesellschaftlichen Entstehungskontextes, den hellenistischen Staaten, fungieren, bleibt ebenso unbeantwortet. Auch hier dürfte sein solche Überlegungen strikt ablehnendes "ignoramus et ignorabimus" den weiteren Forscherdrang nicht befriedigen. Diesen auf eine solide Basis gestellt zu haben, ist insofern das eigentliche Verdienst dieser Arbeit.
Anmerkungen:
[1] Zur Begriffsdeutungskanonade in der Forschung vergleiche R.F. Glei: Philologen in Utopia, Neulateinisches Jahrbuch 2 (2000), 39-55.
[2] Euhemerus Messenius. Reliquiae, Stutgardiae / Lipsiae 1991; Euhemeros von Messene. Leben, Werk und Nachwirkung, München / Leipzig 2002 (=Beiträge zur Altertumskunde; 157).
[3] Zum Aristonikos-Aufstand siehe die vorzügliche Arbeit von F. Daubner: Bellum Asiaticum. Der Krieg der Römer gegen Aristonikos von Pergamon und die Einrichtung der Provinz Asia, München 22006.
[4] Vergleiche dazu auch die berechtigte Kritik in der Rezension zum Werk von J. Dreßler, H-Soz-u-Kult, 17.10.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-4-040.
Sven Günther