Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik in Bonn (Hg.): Napoleon und Europa. Traum und Trauma, München: Prestel 2010, 384 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7913-5088-2, EUR 39,95
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In zahlreichen Variationen, Repliken und Kopien ist es überliefert, Jacques-Louis Davids Bravourstück Napoleon überquert den Großen Sankt Bernhard-Pass aus dem Jahre 1800. Niemand, nicht einmal Karl der Große, über dessen Namen in einem Felsen im Bildvordergrund der siegreiche Feldherr hinweg reitet, hat Europa so nachhaltig geprägt wie Napoleon Bonaparte (1769-1821), dessen dem David-Gemälde entnommene Figur als Alpenüberquerer, über einer Europakarte montiert, das Titelbild des hier angezeigten Kataloges ziert. Dass diese Prägung ambivalent ist, zeigt die von Bénédicte Savoy (Professorin am Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik der Technischen Universität Berlin) durchgeführte Schau der Bundeskunst- und Ausstellungshalle durch den dialektischen Untertitel "Traum und Trauma" an.
Die besondere Stärke von Ausstellung und Katalog ist der kulturhistorische Schwerpunkt. Zwar wurden während der Herrschaft des Korsen von David, Gros und Ingres Meisterwerke geschaffen, welche Napoleon virtuos propagandistisch zu nutzen wusste, wie Uwe Fleckners Aufsatz "Die Wiedergeburt der Antike aus dem Geist des Empire. Napoleon und die Politik der Bilder" zusammenfasst (101-115). Jedoch ist dazu viel geschrieben worden - neben den entsprechenden Beiträgen Fleckners sei verwiesen auf die Monografien von Prendergast zu Gros oder Telesko zu Napoleons Kunstpolitik. [1] Andere, weit seltener im Fokus der Forschung stehende Fragestellungen sind demzufolge spektakulärer: Wie sah die Kunstproduktion in den besetzten Gebieten des späteren Deutschland aus, die weder zentral gelenkt waren, noch von vornherein einem propagandistischen Zweck zu erfüllen hatten? Diesem Aspekt spürt Michael Thimann in seinem Beitrag "Bilder aus eiserner Zeit" nach (117-135). Bezeichnenderweise geht er dabei nicht von "großer Kunst" aus, sondern von dem durch Friedrich Wilhelm III. von Preußen gestifteten Eisernen Kreuz, welches als höchste Auszeichnung für Tapferkeit standesübergreifend verliehen wurde und seit 1956 als Erkennungszeichen für die Luft- und Kampffahrzeuge der Bundeswehr fungiert, also bis heute im Bewusstsein verankert ist. Nachdrücklich unterstreicht der Autor damit die Bedeutung der napoleonischen Kriege für die Formierung einer Nationalidee und deren Fortwirken. Kleinere, fast privat anmutende Werke stehen ebenso im Mittelpunkt seines Textes, wie Kerstings viel besprochenes Bildpaar Auf Vorposten und Die Kranzwinderin, welches retrospektiv Opfer und Leistung der Freiwilligen aus deutschen Landen feiert, ohne mit einer Ikonografie des Pathos in den Vordergrund zu drängen. Allegorien des Sieges verbergen sich ebenso in Schinkels Gemälde Mittelalterliche Stadt der Alten Nationalgalerie, einer Glorifizierung mittelalterlicher Zivilisation, oder Friedrichs Chasseur im Walde. Thimann schließt mit einer Vorstellung einiger Kriegs- und Soldatenmale, die eine "Erinnerungslangschaft" in Deutschland generierten, welche zwischen privater und nationaler Andacht oszilliert und zum Teil bis in unsere Gegenwart nachwirkt.
Mit dem Stichwort der "Erinnerung" bzw. "Memoria" operieren mehrere der Beiträge: Etienne François setzt sich in "Nation und Emotion" (136-145) ausgehend von den durch Pierre Noras Studien generierten Vorstellungen der lieux de mémoire mit den Umwälzungen auseinander, die im Widerstand gegen die Napoleonische Okkupation nationale Kräfte erst generierten und Mythen schufen, die aufgrund ihrer emotionalen Verwurzelung im kollektiven Gedächtnis Identitäten präg(t)en. [2] Bemerkenswert auch der Beitrag "Kunstbeute und Archivraub" von Yann Potin, der sich mit Napoleons Versuch beschäftigt, die Archive der eroberten Länder in Paris zu vereinigen und damit eine 1794 initiierte Kampagne der Revolution fortzuführen. Dieser "Zwangstransfer" ist in der Tat als Versuch zu werten, "das schriftliche Gedächtnis Europas" zu annektieren" (91). Hochspannend zeichnet Potin nach, dass der propagandistisch als Befreiungsschlag für geistiges Eigentum verbrämte Raub, Konfiszierungen und territorialen Neuregelungen vorangehen sollte. Der mit der Sichtung und Klassifizierung der Archivalien betraute Archivar Pierre-Claude-François Daunou sah sich konfrontiert mit tausenden von Kisten, 3200 aus Wien, 12000 aus dem Vatikan, 35000 Kartons aus den deutschen Kleinstaaten, die unter Daunous Aufsicht erstmals - und zukunftsweisend - unter dem gemeinsamen Nenner "Sprache" zu einer Einheit gefasst wurden. Kuriosa gibt es dabei zu vermerken, sodass Kaiser Franz I. den Archivar nach Rückgabe der Habsburger Dokumente mit einer goldenen Tabakdose bedachte, da diese erstmals perfekt klassifiziert waren, während Spanien es in den Wiener Verträgen versäumte, sein Staatsarchiv zurückzufordern und dieses erst 1941 restituiert wurde (98). Jean-Luc Chappey und Marie-Noëlle Bourguet skizzieren in "Die Beherrschung des Raumes" eine damals vielleicht weniger beachtete, tatsächlich aber wahrscheinlich folgenreichste Facette der napoleonischen Herrschaft: Die Reformen, Verwaltungsrevolutionen und technischen Neuerungen, die der Kaiser europaweit durchsetzte. Denn dass Straßen- und Brückenbau, Landvermessung, Einrichtung eines Telegrafennetzes, Schaffung einer unabhängigen Justiz und Einführung des Code civil, - bis heute größte Leistung Bonapartes und Grundlage des BGB - Etablierung eines einheitlichen Maß- und Gewichtssystems, Gründung von Akademien Teil seiner Kriegspolitik und Bausteine seiner imperialen Macht darstellten, ändert nichts an ihrer jahrhunderteüberdauernden Bedeutung. Auch die weiteren Beiträge des Bandes bieten faszinierende Einblicke, wie beispielsweise Antoine de Baecques Text "Imperiale Verletzungen", auch wenn das modisch gewordene Forschungsthema "Körper" hier vielleicht ein wenig zu markant ins Zentrum rückt.
Das in den neun vorangestellten Aufsätzen und gleich zwei Forschungsüberblicken aufgefächerte Spektrum, greift Savoy in den 12 Sektionen von Ausstellung/Katalog auf: Der etwas verwirrende Abschnitt "Generation Bonaparte" berichtet von den Altersgenossen des Korsen, den "Novi homines", welche befördert durch die Revolution alle tradierten Standesgrenzen durchbrechen konnten. "Faszination und Abscheu" greift die Ambivalenz auf, welche die Einschätzung der Person des Korsen europaweit prägte, "Leibliche und symbolische Geburt" gibt Biografisches, "Der Traum vom Weltreich" verdeutlicht den Alptraum einer fast 20-jährigen, ununterbrochenen Kriegsphase in Europa. Die etwas unglücklich benannte Sektion "Blut und Sex. Europa, auch eine Familienangelegenheit" illustriert, wie Napoleon durch Heiratspolitik und Einsetzung seiner Verwandten die europaweite Herrschaft in dynastischer Einheit umsetzte [3], während "Raum, Recht, Religion. Neue Formen der Beherrschung von Raum und Geist" die technisch-ideellen Neuerungen unter dem Korsen skizziert. Die Sektionen "Objekte der Begierde: Napoleon und der europäische Kunst- und Gedächtnisraub", "Das Reich der Zeichen", "Duelle", "Nationen - Emotionen" setzen sich mit Kunst, Kultur sowie ihrer Instrumentalisierung auseinander und beleuchten diese Bereiche von französischer und antifranzösischer Seite aus. "Symbolischer und leiblicher Tod" sowie "Projektionen. Eine 'geteilte' Ikone" thematisieren Tod und Nachleben des einstigen Herrschers über Europa. Jede dieser Sektionen wird von einem knappen, aber informativ-prägnanten Text Bénédicte Savoys eingeleitet. Die Katalogeinträge zu den Kunstwerken und Objekten sind zumeist sehr kapp und bieten nur die nötigsten Informationen sowie einige Literaturhinweise. An einzelnen Punkten wäre eine etwas genauere Endlektüre schön gewesen: So erfährt man staunend von einer Thorvaldsen-Büste Napoleons, deren Original 1829 unter der Julimonarchie gefertigt wurde, die natürlich erst ein Jahr später begann (Kat. 30, 172) oder von den drei Millionen Toten und Hunderttausenden verletzten Europäern (Einleitung, 187), welche wenige Seiten später auf "fünf Millionen Tote und zehn Millionen Verletzte" angewachsen sind (210). Dies sind jedoch nur Marginalia.
Der Katalog begeistert schließlich durch den opulenten Anhang (352-381): fünf informative Karten zeichnen die territoriale Entwicklung Europas zwischen 1789 und 1815 nach, eine neunseitige Zeittafel informiert über die Bonapartes und die politische Geschichte der Zeit, mehrere Karten illustrieren Napoleons Feldzüge, ein zweiseitiger Stammbaum die dynastischen Verflechtungen der Familie. Der Auswahlbibliografie folgt ein Personen- und Ortsregister.
Napoleon unterwarf als Tyrann den europäischen Kontinent und verbreitete zugleich die freiheitlichen Ideen der Französischen Revolution, deren Vorstellung der "Nation" wiederum seinen letztlichen Untergang einläutete. Er reformierte und unterjochte, vereinheitlichte und zerstörte, schuf das Recht für den Kontinent und brach es zugleich. Bis heute bleibt daher die Frage zu beantworten, die die Ausstellung sowie der hervorragende und für weitere Auseinandersetzungen Maßstäbe setzende Katalog durch die Aussparung des Fragezeichens dezidiert nicht formulieren, die sich aber dennoch stellt: "Napoleon und Europa - Traum oder Trauma?"
Anmerkungen:
[1] Christopher Prendergast: Napoleon and History Painting. Antoine-Jean Gros' 'La Bataille d'Eylau', Oxford 1997; Werner Telesko: Napoleon Bonaparte. Der 'moderne Held' und die bildende Kunst, 1799-1815, Wien 1998.
[2] Vgl. dazu: Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München / Berlin 1998.
[3] Dazu z.B. Ausst.-Kat. Kassel, Museum Fridericianum, 2008: König Lustik!? Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen, Kassel 2008.
Ekaterini Kepetzis