Heinz Duchhardt: Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15 (= C.H. Beck Wissen; 2778), München: C.H.Beck 2013, 128 S., 2 Abb., ISBN 978-3-406-65381-0, EUR 8,95
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Kaiser, Könige, Fürsten und mit ihnen ein schier unüberschaubarer Hofstaat, Minister, Diplomaten, Adlige, nicht wenige Glücksritter und Sensationslüsterne, Frauen wie Männer: Wien war zwischen September 1814 und Juni 1815 ihre Kulisse. In der habsburgischen Haupt- und Residenzstadt sollte die europäische Landkarte nach einer 25jährigen Epoche von Revolution und Krieg neu und dauerhaft geordnet werden. Zugleich feierte der europäische Adel sich selbst und das Ende der napoleonischen Gewaltherrschaft in einer endlosen Reihe von Festen und Bällen, weshalb sich in der öffentlichen Erinnerung jenes berühmte Urteil Karl Josephs de Ligne eingebrannt hat, wonach der Kongress nicht gearbeitet, sondern getanzt habe. Heinz Duchhardt, vormaliger Direktor der Abteilung Universalgeschichte des Instituts für Europäische Geschichte Mainz und durch zahlreiche Publikationen ausgewiesener Experte der Epoche und frühneuzeitlicher Friedenskongresse, widmet sich in seiner rechtzeitig vor dem 200. Jubiläum vorliegenden, handlichen Gesamtdarstellung beiden Seiten des Wiener Kongresses: seinen politischen Ausgangsbedingungen und Folgen ebenso wie dem gesellschaftlichen Ereignis.
Mit seinen begrifflich am Theater und Drama orientierten Kapiteln umrahmt Duchhardt den "tanzenden" Kongress und bettet das "Zufallsprodukt" (16) zugleich umsichtig in die Schwellenzeit um 1800 ein. Das Buch beginnt mit einer kurzen Einleitung, in der Duchhardt einige Gesamtdarstellungen, jüngere Spezialstudien und Quellensammlungen zum Wiener Kongress vorstellt. Anschließend skizziert er die wichtigsten Etappen im Vorfeld des Kongresses und die sich aus den grundstürzenden Erschütterungen des Mächtesystems ergebenden Probleme, welche die vier Hauptsiegermächte und das später hinzutretende Frankreich zu lösen hatten. Es hatte sich - nicht zuletzt aufgrund gegensätzlicher Interessen - als Illusion erwiesen, alle Fragen nach dem Sturz Napoleons in Paris zu regeln. Eine verbindliche internationale Rechtsordnung und eine Neuordnung - nicht wenige sprachen von einer Wiederherstellung - des europäischen Mächtegleichgewichts standen ebenso auf der Tagesordnung wie die Fragen der territorialen und politischen Ausgestaltung Deutschlands oder die Klärung des außereuropäischen Konflikts zwischen Frankreich und Großbritannien. Die Schwierigkeiten ließen sich nicht immer harmonisch beilegen, das zeigte sich auch bald in Wien. Zur "Schicksalsfrage" (Th. Nipperdey) des Kongresses wurde schon im Winter 1814/15 die polnisch-sächsische Krise, die hart an Rand eines neuerlichen Krieges führte. Preußen forderte mit russischer Rückendeckung Sachsen und Teile Polens, musste sich aber schließlich dem Druck einer englisch-österreichisch-französischen Allianz beugen. Es begnügte sich mit einem Teil Sachsens und wurde dafür am Rhein entschädigt. Zu Recht gibt Duchhardt diesem schwierigen und mit Blick auf die weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert wichtigen Komplex viel Raum, ebenso wie der deutschen Frage und den vielen Verfassungsprojekten und -problemen.
Zwischen den politischen Kapiteln finden sich kurze, gelungene biographische Skizzen vieler Akteure und Aktricen, die das Handeln und den Hintergrund der beteiligten Personen veranschaulichen und einordnen. Neben den "großen Akteuren", Monarchen (etwa Franz I., Friedrich Wilhelm III.) und leitenden Ministern (u.a. Metternich, Talleyrand) aller führenden Delegationen, werden auch der Öffentlichkeit heute weniger vertraute Vertreter von Nicht-Großmächten (z.B. Kardinal Ercole Consalvi oder Ignaz Heinrich von Wessenberg) und Frauen (etwa Wilhelmine von Sagan) kurz portraitiert. Vor den Augen des Lesers entfaltet sich ein lebendiges "Who's who" jener bewegten Monate. Sie alle hatten teil an dem eindrucksvollen und berauschenden "Gesellschaftspiel", bei dem ein Fest, ein Konzert, ein Ball, ein Theaterstück das nächste jagte. Dieses Spiel hatte nicht nur gesellschaftliche, sondern auch eminent politische Funktionen, kamen hier gleichsam nebenbei doch wichtige Probleme zur Sprache.
Das Kapitel "Spielregeln" profitiert in besonderer Weise von Duchhardts umfassender Kenntnis frühneuzeitlicher Friedenskongresse. Er benennt hier präzise die strukturellen Neuerungen des Wiener Kongresses. Die für unterschiedliche Problemkreise zuständigen Komitees bzw. Kommissionen entsprachen noch weitgehend eingeübten und vertrauten Verfahrensweisen des Ancien Régime und waren angesichts der Aufgabenfülle unverzichtbar. Federführend war das Viererkomitee der Siegermächte, das sich um Frankreich, Spanien, Portugal und Schweden erweitert zum Achterkomitee wandelte. Neu war daneben ein hohes, bis dahin nicht gekanntes Maß an Bürokratisierung und Formalisierung, auszumachen etwa in der Beglaubigung der zahlreichen Diplomaten. Zudem führte die Anwesenheit der Teilnehmer dazu, dass vieles außerhalb der Sitzungen besprochen wurde und sich nicht oder nur bruchstückhaft in schriftlicher Form niedergeschlagen hat.
Angesichts der gewaltigen Herausforderungen kann es kaum überraschen, dass die mit der Rückkehr Napoleons einsetzende Bilanz dieser gut lesbaren Einführung zum Wiener Kongress gemischt ausfällt. Die lauter werdenden liberalen und nationalen Strömungen jener Ära fanden in den Ohren der Architekten der Wiener Nachkriegsordnung kein Gehör, zumeist wurden sie in den Folgejahren rigoros verfolgt und unterdrückt. Bescheiden fielen auch die völkerrechtlichen Ergebnisse aus, immerhin einigte man sich auf ein Verbot des Sklavenhandels. In den Augen nicht weniger Zeitgenossen und nachgeborener Historiker waren viele Lösungen halbherzig und künstliches Stückwerk, ja sie bargen den Keim neuer Konflikte in sich. Einige wichtige Fragen blieben ungeregelt, man denke nur an Italien oder den Balkan, das Pulverfass des langen 19. Jahrhunderts. Dass dagegen die Deutsche Bundesakte gleichsam in letzter Minute noch zustande kam, gehört gewiss zu den großen und nachhaltigen Leistungen des Kongresses. Auf der Habenseite stehen auch eine schon länger zu beobachtende Würdigung der vergleichsweise stabilen Wiener Friedensordnung und neben der in der jüngeren Forschung positiveren Einschätzung des Deutschen Bundes (J. Müller) nun auch diejenige Metternichs (W. Siemann).
Nils Freytag