Wolfgang Adam / Siegrid Westphal (Hgg.): Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, Berlin: De Gruyter 2012, 3 Bde., CXVI + 2348 S., ISBN 978-3-11-020703-3, 458,00
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Dass man früher aufgrund einer Fixierung auf die Bildung der europäischen Nationalstaaten als der dominanten Fortschrittsperspektive den frühneuzeitlichen Polyzentrismus als defizitär ansah, trifft gewiss zu. Aber dieses einseitige Interesse ist dafür nicht der einzige Grund: Das Fehlen eines zumal mit Paris, Wien oder Madrid vergleichbaren kulturellen Zentrums, an dem man nur die Vorteile wahrnehmen wollte, ist ein anderes Motiv für die Klage über die vielen mittleren und kleinen Territorien, die Duodezfürstentümer und Winkelresidenzen, die in den deutschen Landen auch diejenigen anstimmten, die über die verzögerte Etablierung des Nationalstaats - und zumal dessen, den man dann nach 1871 bekam - gar nicht traurig waren. "Auf die Künste hat freylich eine allgemeine Hauptstadt einen sehr großen Einfluß", stellte 1773 der im Vorwort des Handbuchs zitierte Popularphilosoph Christian Garve fest; "denn nur durch die gegenseitige Mittheilung der Einsichten und Erfindungen, und durch den Ehrgeiz, den die Nebenbuhlerschaft erregt, können die Menschen ihre Werke zur Vollkommenheit bringen; und bey den Künsten findet diese Mittheilung anders nicht statt, als durch die Gegenwart und den Anblick". [1]
Fragen und Antworten dieser Art gehören zu den Ausgangspunkten und den Motiven, denen das dreibändige Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum seine Entstehung verdankt, das vom Osnabrücker Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit erarbeitet wurde (Redaktion: Marina Stalljohann, Heinrich Schepers, Heike Düsselder, Volker Arnke und Tobias Bartke). Während auf einzelne der insgesamt 51 Artikel über städtische Zentren von Augsburg bis Würzburg, alle im Umfang von durchschnittlich 40-50 Druckseiten, hier nur beiläufig eingegangen werden kann, sollen die Konzeption des stattlichen Unternehmens von fast zweieinhalbtausend Seiten, der Aufbau und vor allem die Auswahlprinzipien und deren Kriterien näher betrachtet werden. Aufschluss erteilen darüber sowohl das knappe Vorwort der beiden Herausgeber Wolfgang Adam und Siegrid Westphal als auch der in seiner begrifflichen Präzision und Stringenz und der Fülle der Aspekte ausgezeichnete Einleitungstext von Claudius Sittig (Perspektiven der interdisziplinären Forschung, XXXI-LV), der von 2007 bis 2011 Koordinator des Projekts gewesen ist (2011/12 war Winfried Siebers dafür verantwortlich).
Wie Sittig im Einzelnen ausführt, wurde großer Wert auf eine konkrete Anbindung an die in den vergangenen Jahrzehnten sehr rege Forschung zur kulturhistorischen Regionalität gelegt, zu Geographie, Kulturgeographie und Topographie (der frühneuzeitliche Name ist oft Chorographie), zur Kulturraum- und Residenzforschung, wozu man auch das gerade in der germanistischen Frühneuzeitforschung schon lange verfolgte Interesse an der Hofkultur, im sogenannten 'Barock' wie auch an den 'Musenhöfen' des 18. Jahrhunderts, zählen kann. Das Handbuch sucht den Fragen und Ergebnissen dieser vielfältigen Forschungen bis in die Grenzbestimmungen, die Selektionen und den Aufbau der Artikel hinein so stringent wie möglich Rechnung zu tragen, und der Erfolg dieser immer wieder erkennbaren Bemühungen, die Fragestellungen und Ergebnisse der Forschung umzusetzen und es nicht bei allgemeinen Absichtserklärungen zu belassen, verdient große Anerkennung.
Folgende Grenzen, Schwerpunktbildungen und Kriterien sind hervorzuheben:
- Räumliche Grenzen sind der Raum der deutschsprachigen Kultur der Frühen Neuzeit, die weitgehend mit den Grenzen des Alten Reiches vor 1806 zusammenfallen. Sinnvollerweise werden auch Ausnahmen zugelassen, wie etwa Basel (Artikel von Kaspar von Greyerz), das ja dem Reichsverband nicht immer angehörte, und Königsberg (von Axel E. Walter). Schon hier ist darauf hinzuweisen, dass der regionale Horizont der europäischen Frühen Neuzeit mit dieser Begrenzung nicht annähert berücksichtigt ist und der Obertitel des Handbuchs den Mund also bei weitem zu voll nimmt. [2]
- Neben der allen gemeinsamen interdisziplinären Perspektive spiegelt das Aufbauschema der Artikel die Umsetzung zentraler Forschungsimpulse besonders deutlich wider. Um die Verfolgung selektiv-vergleichender und überhaupt kontextualisierender Fragestellungen mit Hilfe dieses Handbuchs zu ermöglichen, sind alle Artikel nach demselben kategorialen Schema aufgebaut. Die in den Titeln über den Abschnitten jeweils genannten, in der Regel trennscharfen Kategorien sind die folgenden: (0) Kurzcharakteristik (Überblick über Aspekte der Bedeutung des Ortes) / 1 Geographische Situierung / 2 Historischer Kontext / 3 Politik, Gesellschaft, Konfession / 4 Wirtschaft / 5 Orte kulturellen Austauschs / 6 Personen / 7 Gruppen / 8 Kulturproduktion / 9 Medien der Kommunikation / 10 Memorialkultur und Rezeption (Zentren als prominente Gedächtnisorte und deren variierende Außenwahrnehmung durch Zeitgenossen, auch als Material der Rezeption, etwa für spätere evtl. Kanonisierungen [z.B. Weimar, Berlin]) / 11 Wissensspeicher (Informationen über Quellenbestände der lokalen Überlieferung und ihrer Zugänglichkeit) / Bibliographie / Abbildungen.
- Zeitrahmen ist die gesamte Frühe Neuzeit "vom Ende des Spätmittelalters bis zur Epochenschwelle um 1800", wie es im Vorwort der Herausgeber heißt (XXVI). Leider fehlt die Begründung zumal für die Bestimmung des Epochenendes (für die es früher liegende Alternativen gäbe), sehr viel problematischer ist aber die damit einhergehende Festlegung:
- "Kernzeitraum" ist das 17. Jahrhundert, das demnach in den Artikeln bevorzugt berücksichtigt werden soll. Begründungen dafür sind:
1. Die Residenzen und Zentren des Spätmittelalters sowie des Aufklärungsjahrhunderts seien "gut erforscht" (CCVI), während kein entsprechendes Werk für das 17. Jahrhundert vorliege.
2. Das 17. Jahrhundert besitze eine "Scharnierfunktion" im Epochenumbruch zur Neuzeit (ebd., nach Paul Münch).
3. Das Handbuch gebe Gelegenheit, die Wahrnehmung des 17. Jahrhunderts als einer eher einheitlich strukturierten "Übergangsphase" mit ihren "Konsolidierungstendenzen und perspektivenreiche(n) Entwicklungsansätze(n)" zu verstärken (XXVII), im Gegensatz zu älteren Auffassungen von einer Krisenhaftigkeit und Zweiteilung mit dem Westfälischen Frieden als Zäsur in der Mitte. Gemeint (aber nicht deutlich gesagt) ist natürlich das deutsche 17. Jahrhundert, und man geht wohl nicht fehl, das alte Interesse der deutschen Forschung und speziell der Neugermanistik am 17. Jahrhundert als dem ominösen 'Barockzeitalter' hinter der Osnabrücker Begründung zu vermuten, das sich hier noch einmal gemeldet haben mag, jedoch, anders als in der Einleitung von Sittig, durch Begriffsreflexion nicht eingeholt.
Das Zurücktreten des 15. und 16. Jahrhunderts ist aus vielen Gründen mit einem dicken Fragezeichen zu versehen, weil es Teile dieser Makroepoche in den Schatten versetzt, in den sie keinesfalls gehören. Der semantische Anspruchshorizont des Begriffs "Frühe Neuzeit" wird so wesentlich reduziert. Dafür kurz eine Handvoll der wichtigsten Gründe: [3]
1. Das 15./16. Jahrhundert ist die Kernzeit des Humanismus und Späthumanismus, zumal in der deutschsprachigen Kultur, und ohne deren zentrale Berücksichtigung ist eine Rede von "Früher Neuzeit" sinnvoll nicht möglich. Dass Artikel wie diejenigen über Basel, Augsburg (vorzüglich von Silvia Serena Tschopp) oder Nürnberg (von Michael Diefenbacher und Horst-Dieter Beyerstedt) darüber dennoch gut unterrichten, ist eine erfreuliche Inkonsequenz; aber auch in solchen Fällen einseitig das 17. Jahrhundert zu fokussieren, grenzte an Absurdität.
2. Die eigentliche Reformationszeit, etwa die Lebensspanne Luthers und Melanchthons, gehört gerade in Deutschland wesentlich zur Ausprägung des Humanismus und den Ansätzen des Späthumanismus hinzu, als konstitutive Komponente, Kontrapunkt oder sogar Negation. Von einem Schwerpunkt 17. Jahrhundert her wird davon allenfalls Konfessionalisierung oder auch "Konversionalisierung" (Kai Bremer) als dessen Spätfolgen bis ins 18. Jahrhundert sichtbar.
3. Mit in den Schatten geraten dadurch die europaweiten, aber bis zur Zäsur um 1620 besonders in Ost- und Südost(mittel)europa beheimateten oder dorthin abgedrängten Bewegungen des reformierten und des radikalen Protestantismus (der Täufer, Sozinianer, Hugenotten, Presbyterianer, und sehr vieler anderer). Zumal die wesentlich calvinistisch (hugenottisch) dominierte Gelehrtenkultur des späten 16. Jahrhunderts und um 1600 ein Kernstück des (Spät-)Humanismus der Frühen Neuzeit ist und damit von dieser selbst nicht zu trennen.
4. Diese (Gelehrten-)Kultur des 16. Jahrhunderts und ihre Zentren und Autoren usw. werden in den Handbüchern der Forschung zum "Spätmittelalter" keineswegs so ausreichend berücksichtigt, dass eine kompensatorische Verschiebung der Aufmerksamkeit auf das 17. Jahrhundert gerechtfertigt wäre.
5. Eine Folge des Schwerpunkts ist auch, dass außer Danzig (von Edmund Kizik) und Lübeck (von Manfred Eickhölter) keine der Hansestädte an der Ostsee vertreten ist und von denen an der Nordsee nur Hamburg (von Martin Krieger).
6. Durch seine Schwerpunktsetzung identifiziert sich das Handbuch schließlich mit den Ergebnissen der epochalen Bedeutungsverschiebung der Zentren von den süddeutschen Reichsstädten in die Mitte und nach Norden, ein Prozess, der auch von Sittig nicht eigens thematisiert wird. Von dem im Vorwort beteuerten Verzicht auf "dogmatische Fixierungen" (XXV) kann in diesem Punkt keine Rede sein.
Diese Einwände gegen eine problematische Schwerpunktsetzung können den ungewöhnlich überzeugenden Gebrauchswert dieses Nachschlagewerks nicht entscheidend schmälern, zumal sie zum Glück gar nicht an allen Artikeln ablesbar ist. Aber der Benutzer sollte sich ihrer von Fall zu Fall bewusst sein. Auch die Desiderate, die bei derartigen Werken immer festzuhalten sind, fallen als Einwände kaum ins Gewicht: von Erfurt, Frankfurt/Oder, Herborn und Salzburg ist im Vorwort selbst die Rede; auch Artikel über Krakau (als herausragendes Beispiel für ein Grenzphänomen - auch hier wäre das 17. Jahrhundert der ganz falsche Schwerpunkt, und: auch das vertretene Königsberg war kein Teil des Reiches), Bremen, Zürich, Freiburg i.Br., Eichstätt, Passau, Innsbruck und Graz hätte man sich gewünscht.
Anmerkungen:
[1] Christian Garve: Ueber den Einfluß einiger besondern Umstände auf die Bildung unserer Sprache und Litteratur. Eine Vorlesung. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 14 (1773), H. 1, 5-25, hier 22 f.
[2] Das vom Autor dieser Rezension verfasste, einen Band umfassende Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit, 1: Bio-bibliographisches Repertorium (Berlin 2004) wollte diese Begrenzung vermeiden und trägt in der Auswahl der Autoren-Artikel dem pränationalen Charakter der europäischen Frühen Neuzeit entschieden Rechnung. Um wie viel überzeugender wäre ein solcher Horizont in drei Bänden zu realisieren gewesen.
[3] Ausführlicher in meinem Artikel "Frühe Neuzeit" in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. I (1997), 632-636.
Herbert Jaumann