Siegrid Westphal: Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648-1806 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 43), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, X + 526 S., ISBN 978-3-412-08802-6, EUR 64,00
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Die 2001 angenommene Jenaer Habilitationsschrift, deren Obertitel nicht unproblematisch ist, weil er eine personenbezogene, kabinettsjustizähnliche Jurisdiktion des Reichsoberhaupts assoziieren könnte, zielt in ihrem Kern darauf ab, an einem regionalen Fallbeispiel die "politische Handlungseinheit" von Kaiser und Reich auf dem Gebiet des Rechtswesens zu demonstrieren und damit letztlich den (längst nicht unumstrittenen) Parameter des "komplementären Reichs-Staats" (Georg Schmidt) abzustützen. Dazu war es notwendig, entsprechend einem neuen Forschungstrend die Rolle des Reichshofrats bei der Beilegung politischer Prozesse stärker zu beleuchten, der bisher ja ungleich bescheidener als sein Pendant, das Reichskammergericht, wissenschaftlich aufgearbeitet wurde. Letzteres war um so zwingender, als die thüringischen Staaten, die als eine geschlossene Geschichtslandschaft verstanden werden, bei ihren mehr oder weniger hausinternen Prozessen in viel stärkerem Maß den Reichshofrat frequentierten - also lutherische Dynastien (Ernestiner, Schwarzburger, Henneberger, das Haus Reuß), deren Organisationsforum und Interessenvertretung, das Corpus Evangelicorum, der Wiener Behörde ja permanent konfessionelle Parteilichkeit vorwarf!
Von den überhaupt erhobenen knapp 1100 Fällen von "dynastischen" Prozessen - also solchen, die von einer ganzen Dynastie oder einem Einzelmitglied ausgingen oder eins von beiden passiv betrafen - wurden nur 128 am Reichskammergericht anhängig gemacht, überwiegend zudem Passivklagen! Dieser Sachverhalt erklärt sich möglicherweise auch dadurch, dass die Prozesse, die Probleme im Familienverband, also insbesondere Sukzessionsangelegenheiten, und solche im Bereich der Geldwirtschaft (zum Beispiel Schuldenklagen) betrafen, ausgesprochen zahlreich waren und mit 37 % und 17,6 % an der Spitze der Skala der Streitgegenstände rangierten, also weit vor den so genannten Untertanenprozessen - und für diesen Typus von Prozessen bei der Wiener Behörde die besseren Perspektiven zu sehen, war nicht abwegig. Insofern lag es auch nahe, die Fallbeispiele aus diesen beiden Rubriken zu wählen und - dies macht den weitaus größten Teil des Buches aus - den Sachsen-Coburg-, Eisenberg- und Römhildischen Sukzessionsstreit (C I) und ein Hildburghausen betreffendes reichsrechtliches Schuldenverfahren, insbesondere das Agieren der kaiserlichen Schuldenkommission (C II), mit einer gewissen Breite aufzuarbeiten. Diese Fallbeispiele sind zweifellos geschickt gewählt, weil sie am Ende fast notwendig auf die Interpretation hinführen, dass das politische System des Reiches zwingend auf dem Miteinander, der Verschränkung von kaiserlicher und landesherrlicher Gewalt, beruhte. Aber ob das für alle Bereiche der Konfliktregulierung im Alten Reich gilt - diese Frage bleibt doch unbeantwortet, und ich würde auch Bedenken tragen, den hier erzielten Befund zum Kronzeugen des Schmidt'schen Parameters zu erheben. Was die Arbeit auf jeden Fall aber mit vollem Recht anmahnend demonstriert hat, ist, dass die Aufarbeitung der Judikatur des Reichshofrats nun forschungsstrategisch Vorrang genießen muss.
Ich will nicht verschweigen, dass dem Buch etwas mehr Sorgfalt - "Austräge" werden durchgängig "Au-sträge" getrennt - gut getan hätte. Die unbekümmerte Applizierung des Absolutismus-Begriffs auf die sehr kleinen mitteldeutschen Territorien hat mich überrascht. Was ist "mittelmediävistische Forschung" (30)?
Das Buch bietet allen Einwänden ungeachtet wichtige Einblicke in die Konfliktregulierungsmechanismen des Alten Reiches und in das Innenleben kleiner Dynastien. Schon allein deswegen führt es deutlich über den bisherigen Forschungsstand hinaus.
Heinz Duchhardt