Natasha Therese Seaman: The Religious Paintings of Hendrick ter Brugghen. Reinventing Christian Painting after the Reformation in Utrecht (= Visual Culture in Early Modernity), Aldershot: Ashgate 2012, XIV + 180 S., ISBN 978-1-409-43495-5, GBP 55,00
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Angesichts unseres spärlichen Wissens über die Lebensumstände und Auftraggeber von Hendrick ter Brugghen (1588-1629) erscheint es gewagt, die Vorstellungen Ter Brugghens von dem, was man sein "Bildkonzept" nennen könnte, im Wesentlichen durch die Analyse von vier bedeutenden Frühwerken des Malers zwischen 1620 und 1625 zu "rekonstruieren". Zu dem früh verstorbenen Utrechter Maler liegen einschlägige kunsthistorische Monografien und Ausstellungskataloge vor. Das Buch von Seaman zielt aber nicht auf eine "klassische" kunsthistorische Würdigung des Gesamtwerkes von Ter Brugghen, sondern fragt eben nach seiner Idee vom Bild. Diese Fragestellung ist spannend und reizvoll. Dabei geht es in der Frühzeit vor allem um seine Caravaggio-Rezeption und Abgrenzung von diesem durch Herausbildung einer eigenen künstlerischen Handschrift im Anschluss an seinen Romaufenthalt (1607-1614). Hierzu gehört eine bewusst "archaisierende", auf ältere Vorbilder des 15. und 16. Jahrhunderts wie zum Beispiel Albrecht Dürer oder Lucas van Leyden rekurrierende Formensprache. Eine Kernthese des Buches, die in sechs Kapiteln essayistisch umschrieben wird, lautet, dass Ter Brugghen dem Betrachter durch bestimmte Kunstgriffe stets vor Augen führe, dass dieser ein Gemälde in seiner "Materialität", nicht die Wirklichkeit einer Sache oder Handlung selbst anschaue. Um diese hochinteressante These, die aus der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts vertraut und dort einleuchtend ist, zu begründen, grenzt Seaman die Bilder Ter Brugghens zum einen von dem eindringlichen Realismus Caravaggios ab und stellt sie zum anderen in den Kontext einer Malerei im Widerstreit zwischen protestantischer und katholischer Konfession in Utrecht, jener holländischen Stadt, aus der im 16. und 17. Jahrhundert besonders viele Künstler nach Rom gingen.
Seaman ist wohl durch jüngere Forschungstendenzen angeregt worden, die auch in die Caravaggio-Literatur Eingang gefunden haben (vgl. Klaus Krüger: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001 [zugl. Habil.-Schr., Berlin 1997]). Während sie auf diese Arbeit ausdrücklich hinweist, fehlt im Literaturverzeichnis ein jüngerer Aufsatz von Klaus Krüger, der zeigt, dass bereits Caravaggio dem Betrachter einen komplexen Begriff von der Realität des Bildes jenseits des bloßen naturalistischen Illusionismus vermittelte. [1] Und auch der für Seamans Argumentation so zentrale Begriff der "Materialität" wird in der jüngeren Caravaggio-Forschung bereits thematisiert. [2] Die ersten drei Kapitel dokumentieren das Interesse der Autorin an theoretischen Fragestellungen wie etwa an einer Diskussion des problematischen Begriffs des "Caravaggismus", der Unterschiede zwischen Malern wie Gerrit Honthorst, Jan van Bijlert, Dirck van Baburen oder Ter Brugghen tendenziell nivelliert. Die Lektüre dieser Kapitel wird dadurch etwas erschwert, dass zentrale Fragestellungen zwar angerissen werden, man sich im Einzelfall aber eine vertiefte und weiterführende Behandlung wünschen würde: Was genau ist unter einer archaischen Formensprache im Werk Ter Brugghens zu verstehen? Welche Rolle spielten posttridentinische Vorstellungen oder gar Regeln zum Umgang mit Bildern und Bild-Verehrung nach den calvinistischen Bilderstürmen im Norden konkret für das Werk Ter Brugghens? Wie wirkte sich die Konfession des Betrachters tatsächlich auf seine Bildwahrnehmung aus? Auch die essayistische Vermischung von Fakten mit Thesen, die eher unterschwellig eingestreut werden, machte es dem Rezensenten teilweise schwer, die Argumentation nachzuvollziehen.
Vom vierten Kapitel an (72-101) widmet sich Seaman ausdrücklich der Bildanalyse, und zwar zunächst der "Kreuzigung" Ter Brugghens von 1625 (The Metropolitan Museum of Art, New York). Das Gemälde wirkt wie die Übertragung eines spätmittelalterlichen Retabelschreins mit den Skulpturen von Maria und Johannes unterhalb einer Christusfigur in das Medium der Malerei. Durch den tief angesetzten Betrachterstandpunkt wird der Eindruck, vor einem Altar zu stehen, noch verstärkt. Auffällig ist außerdem das heruntertropfende Blut, ein eher im 14. und 15. Jahrhundert gebräuchliches Motiv. Seaman erkennt in dem Bild mehrere Zeitebenen visualisiert, mit denen Ter Brugghen quasi eine "meta-historische" Zeit veranschaulichen würde (81). Die Künstlichkeit der aus verschiedenen Zeiten und Medien (Malerei, Skulptur, Grafik) zusammengesetzten Komposition mit Andachtsbildcharakter würde, so suggeriert es die Autorin, das Bild quasi vor einer calvinistischen Bilderattacke schützen, weil der Betrachter es nicht mit einem Idol verwechseln könne (92). Diese Kontextualisierung und Interpretation des Bildes wird nicht durch Quellen oder Dokumente belegt und bleibt daher recht spekulativ. Die Autorin schlägt verschiedene ikonografische Vorbilder für die Komposition vor (am nahesten kommen Werke von Matthias Grünewald und Albrecht Dürer). Interessant ist die durch diverse Forschungen gestützte Annahme, dass Ter Brugghens Auftraggeber in Utrecht aus einem Kreis von konfessionell weder an die katholische noch an die protestantische Glaubensrichtung gebundenen Sammlern bzw. Stiftern stammen könnten, die altertümliche Bildformen schätzten. Xander van Eck hat jedoch in seiner Rezension der vorliegenden Publikation darauf hingewiesen, dass die Bemühungen Ter Brugghens um eine Erneuerung der religiösen Malerei eher in einem katholischen Kontext zu suchen seien. [3]
Problematisch erscheint die Argumentation im fünften Kapitel, das sich der "Dornenkrönung" Ter Brugghens widmet (1620, Kopenhagen, Statens Museum for Kunst). Der Akt der Dornenkrönung wird hier in Beziehung zur Verletzung von Kunstwerken durch Bilderstürmer gesetzt. Tatsächlich wurde der Bildersturm zwar noch im 17. Jahrhundert als eine zweite Passion Christi beschrieben. Wenn Ter Brugghen jedoch an dieser Entsprechung interessiert gewesen wäre, warum hat er dann in seinem Gemälde keinen deutlichen, das heißt für jeden erkennbaren Hinweis auf das Thema gegeben? Seaman liefert, das ist positiv hervorzuheben, eindringliche, auch auf den ersten Blick nebensächliche Details registrierende Bildbeschreibungen, in denen sie den formalen Charakteristika der Frühwerke Ter Brugghens auf den Grund geht. Ihre Interpretationen der Bildbefunde lassen sich durch diese Beobachtungen jedoch nicht allein begründen. Kaum nachvollziehbar ist schließlich die These, dass die Bilder des "Ungläubigen Thomas" (um 1622, Amsterdam, Rijksmuseum) und "Die Berufung des Matthäus" (1621, Utrecht, Centraal Museum), die sich besonders eng an Caravaggio anlehnen, als Pendants konzipiert seien und protestantisches Gedankengut transportieren würden.
Der methodische Ansatz der Untersuchung als einer "Study of visual culture" scheint es mit sich zu bringen, dass Bilder wie Texte gelesen werden und sich dabei fast in einen Text zu verwandeln scheinen. Es ist ein methodischer Fortschritt, die kunstwissenschaftlichen Fragestellungen über die reine Stilkritik oder zum Beispiel Fragen nach den Intentionen von Auftraggebern hinaus zu entwickeln, also nach dem im weitesten Sinn mentalitätshistorischen Gehalt von Bildern zu fragen. Gerade hierfür sind jedoch umso mehr Akribie und Schärfe in der Trennung von Fakten und Annahmen vonnöten. Die Publikation zum Frühwerk Ter Brugghens ist dennoch anregend, weil sie vertraute Pfade der Caravaggismus-Forschung verlässt und ambitionierte Fragen aufwirft, dadurch also das Blickfeld erweitert.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Klaus Krüger: Das unvordenkliche Bild. Zur Semantik der Bildform in Caravaggios Frühwerk, in: Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung, hgg. v. Jürgen Harten / Jean-Hubert Martin, Ausst.-Kat. museum kunst palast, Düsseldorf 2006, 24-35.
[2] Vgl. Marianne Koos: Kunst und Berührung. Materialität versus Imagination in Caravaggios Gemälde des Ungläubigen Thomas, in: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, hg. v. Johann Anselm Steiger, 2 Bde., Wiesbaden 2005, Bd. 2, 1135-1162; Wolfram Pichler: Die Evidenz und ihr Doppel. Über Spielräume des Sehens bei Caravaggio, in: Das Bild ist der König. Repräsentation nach Louis Marin, hgg. v. Vera Beyer / Jutta Voorhoeve / Anselm Haverkamp, München 2006, 125-156; Wolfram Pichler: Il dubbio e il doppio. Le evidenze in Caravaggio, in: Caravaggio e il suo ambiente. Ricerche e interpretazioni, hgg. v. Sybille Ebert-Schifferer u.a., Mailand 2007, 9-33.
[3] Vgl. Xander van Eck: Rezension in: The Burlington Magazine 155, Februar 2013, 101f. Vgl. auch die Rezension der Publikation von David A. Levine auf http://www.hnanews.org/archive/2013/04/nl_seaman0213.html.
Jan Nicolaisen