Rezension über:

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges, München: C.H.Beck 2014, 1157 S., 62 Abb., 14 Karten, 5 Tabellen, 4 Schaubilder, ISBN 978-3-406-66191-4, EUR 38,00
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Rezension von:
Andreas Fahrmeir
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Fahrmeir: Rezension von: Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges, München: C.H.Beck 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/07/24634.html


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Diese Rezension ist Teil des Forums "Neuerscheinungen zum 1. Weltkrieg" in Ausgabe 14 (2014), Nr. 7/8

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora

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Pünktlich zum Sommer 2014 ist eine ganze Reihe neuer Darstellungen des Ersten Weltkriegs (oder einzelner seiner Aspekte) erschienen. Darunter finden sich Bücher, die sich primär an das breitere Publikum richten, andere, die in allgemein(er) verständlicher Form den neuesten Stand der Forschung wiedergeben und schließlich Werke, die neue, auf eigene Forschungen gestützte Interpretationen präsentieren. Jörn Leonhards großes Buch, das in die letzte Kategorie fällt, hat bereits unterschiedliche Aufnahme gefunden. Von Andreas Kilb als das "schwerste Gewicht auf den Büchertischen, die dicke Bertha der deutschen Publizistik" ironisiert [1], wurde es von Hans-Ulrich Wehler enthusiastisch als "einsamer Spitzenreiter" des Jubiläumsbücher-Wettbewerbs gefeiert, welcher der "totalgeschichtlichen Zielutopie einer umfassenden Weltkriegsgeschichte erstaunlich nahe" komme [2].

Um erst einmal den "dicke Bertha"-Punkt aus dem Weg zu räumen: Mit rund 1200 Seiten ist Leonhards Buch selbstverständlich umfangreicher als die sehr knappe Weltkriegsgeschichte Volker Berghahns [3] oder die zahlreichen Überblicke des Krieges, die auf rund 300 Seiten angelegt sind, von denen hier exemplarisch die Bände von Gerhard Henke-Bockschatz und Oliver Janz erwähnt werden sollen. [4] Leonhard fasst sich aber deutlich kürzer als die umfassende Darstellung des Ersten Weltkriegs, die Hew Strachan 2001 begann [5]: auf etwa ebenso vielen Seiten wie Leonhard (unter Berücksichtigung von Sprache und Seitenformat bedeutet das: auf erheblich mehr Raum) behandelt deren erster Band das Jahr 1914, den Krieg außerhalb Europas und die wirtschaftliche Mobilmachung. Die neue Cambridge History of the First World War [6] ist mit knapp 2400 Seiten ebenfalls erheblich umfangreicher. Leonhards Werk ist mithin in einem (Markt-)Segment zwischen kurzer Einführung und umfassender Gesamtdarstellung angesiedelt. Anders gewendet: Leonhards Buch muss Schwerpunkte setzen - und tut das in konsequenter, an einer klaren Problemstellung orientierter Weise.

Das Buch beginnt mit einer langen Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Während die gegenwärtige Diskussion der Kriegsursachen stark durch Reaktionen auf Christopher Clarks 'Sleepwalkers' [7] geprägt ist, dessen Erzählung darüber, "wie" es zum Krieg kam, 1903 einsetzt, beginnt Leonhards Analyse im 16. Jahrhundert. Das Verständnis des Ersten Weltkriegs als Epochenwende setzt für ihn eine Einbettung in die lange europäische Geschichte des Versuchs einer Einhegung von Kriegen und Gewalt (die im 19. Jahrhundert weitgehend erfolgreich war) voraus. Diese Geschichte fand im Sommer 1914 ihr abruptes, aber keineswegs völlig unvorhersehbares Ende. Die Schilderung der Kriegsursachen und -anlässe durch Leonhard verbindet in souveräner Form die älteren, eher an strukturellen Erklärungen wie Rüstungswettlauf, Imperialismus oder Sozialdarwinismus interessierten Ansätze mit den neuen Forschungen zur Kontingenz der diplomatisch-militärischen Konstellation von 1914. Dabei kommt Leonhard mit Blick auf diese diplomatisch-militärische Konstellation zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie Clark, erzählt die Geschichte aber natürlich, der Anlage des Buches entsprechend, weiter. Die politisch in manchem kontingente, aber durch längerfristige Strukturen vorgeprägte Entfesselung von "Gewalträumen" zwischen hochgerüsteten Großmächten öffnete die "Büchse der Pandora", deren vergifteter Inhalt im Laufe des Bandes auf einer mittleren Abstraktionsebene seziert wird.

Leonhard interessiert sich auch in der Folge für die komplexe Dynamik, die aus den Kriegsereignissen folgte. Für die Kriegsjahre gliedert er seinen Stoff in große Kapitel, die jeweils ein Kalenderjahr behandeln; an deren Ende steht eine Zwischenbilanz der Veränderungen, welche die bis dahin vergangenen Kriegsmonate (also 5, 17, 29, 41, 52) und der eine Monat Frieden mit sich gebracht haben, entsprechend dem Konzept, dass der Erste Weltkrieg auch eine Zeit der Verdichtung historischer Entwicklungen darstellte, in der auf der Grundlage kurzfristiger Entscheidungen, Planungen und Entwicklungen Strukturen entstanden, die längerfristige Wirkungen entfalteten. In allen 'Jahreskapiteln' spielen drei Aspekte eine zentrale Rolle: die militärischen Entwicklungen (die allerdings weniger auf der Ebene konkreter Schlachtenbeschreibungen geschildert als mit Blick auf die prinzipiellen Determinanten der Kriegführung an den verschiedenen Fronten diskutiert werden), die Auswirkungen des Krieges auf multiethnische Gesellschaften sowie die Veränderungen der Kriegsdeutung. Weitere Abschnitte ergeben sich aus spezifischen Charakteristika der Kriegsjahre und sind etwa für 1914 dem Ausmaß der Kriegsbegeisterung, für 1915 den späteren Kriegsteilnehmern, für 1916 der neuen Kontur des an Körper und Nerven geschädigten Kriegsopfers, für 1917 erfolgreichen und erfolglosen Revolutionsversuchen, dem Schicksal liberaler Bewegungen und Weltsichten sowie den wirtschaftlichen und monetären Gewichtsverschiebungen, für 1918 der Remobilisierung im letzten Kriegsjahr gewidmet. Diese Anlage des Buches führt bei der Beschreibung mancher Elemente des Krieges, die sich zwischen 1914 und 1918 weniger stark änderten, zu Wiederholungen; für das Jahr 1917 bedingt es auch, dass die verschiedenen Vor- und Nachgeschichten der russischen Revolution (im politischen, militärischen, sozialen und nationalen Bereich) in mehreren Abschnitten erzählt werden. Der Zugriff erlaubt es aber erstens, die Kernthesen präzise zu entfalten, zweitens, die Kapitel getrennt zu lesen, ohne auf zentrale Aspekte der Interpretation verzichten zu müssen.

Leonhards Buch setzt klare Schwerpunkte. Das wird beispielsweise daran deutlich, wessen Perspektive auf den Krieg ihn am meisten interessiert: Direkt zitiert werden ganz überwiegend Intellektuelle, Künstler, Politiker oder hohe Offiziere - das erste Kapitel beginnt mit Thomas Mann, das letzte endet mit ihm und Winston Churchill. Leonhard fokussiert die intellektuellen Determinanten und Auswirkungen des Krieges. Die Konzentration auf Narrative und ihr strukturbildendes Potential ist dabei übrigens ein Zug, den Leonhards Buch mit Christopher Clarks Ansatz teilt und der die vielleicht deutlichste Verschiebung der Diskussionen über den Krieg im Jahr 2014 im Vergleich mit älteren, stärker sozialhistorisch geprägten Ansätzen markiert. Entsprechend stehen die ökonomischen und sozialen Folgen des Kriegs, die Verschiebungen in der Wirtschaft, oder die detaillierte Umsetzung staatlicher Interventionsmaßnahmen in den gänzlich für den Krieg zu mobilisierende Gesellschaft weniger im Mittelpunkt, obgleich sie allesamt Erwähnung finden - meistens in eigenen Kapiteln und jeweils auf der Höhe des Forschungsstands, den Leonhard in seiner ganzen, kaum noch zu meisternden Breite in überaus beeindruckender Weise rezipiert hat.

Das Buch stellt ferner besonders auf die kriegführenden Imperien in Europa und im Nahen Osten scharf. Der Krieg in Asien nimmt ebenso wie die neutrale Welt eine weniger zentrale Rolle ein. In dieser Hinsicht folgt Leonhards Geschichte den Ereignissen: er behandelt den Krieg dort am intensivsten, wo er mit der größten Intensität geführt wurde, und versucht nicht, eine Globalgeschichte des Krieges um jeden Preis zu schreiben, wo sie von der Sache her nicht geboten erscheint.

Diese Fokussierungen folgen schlüssig aus den drei zentralen Fragestellungen des Buches. Die erste betrifft den Charakter des Krieges, der zwischen 1914 und 1918 und darüber hinaus geführt wurde. Für Leonhard führt die Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs als erster moderner Krieg, gar als Beginn eines zweiten Dreißigjährigen Krieges, der zwischen 1919 und 1938 lediglich unterbrochen war, in die Irre. Vielmehr macht er plausibel, dass man den Ersten Weltkrieg als den letzten Krieg betrachten sollte, der nach den Konzepten und mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts geführt wurde. Er insistiert auf der Bedeutung archaischer Truppen wie der Kavallerie, der langsamen Durchsetzung neuer Waffentechniken, dem geradezu verzweifelten Festhalten an überkommenen Strategien wie der Infanterie-Offensive und der Hoffnung, man könne den Gegner entweder umfassen oder mindestens durch das "Ausbluten" einer Front erschöpfen. Eine Form des Krieges, wie er nach 1939 ausgetragen werden sollte, deutet sich für Leonhard allenfalls kurz vor 1918 an, und zwar ohne dass die zentralen Akteure sich dessen in vollem Umfang bewusst gewesen wären. Zentrales Charakteristikum des Ersten Weltkriegs ist für Leonhard daher das spektakuläre Auseinanderfallen von aus der Vergangenheit abgeleiteten "Erwartungen" und den "Erfahrungen" des modernen Krieges, die sowohl an der Front als auch an den Schreibtischen der Intellektuellen und in Offizierskasinos gemacht wurden und verarbeitet werden mussten. Diese Kluft trug erheblich zur Radikalisierung der Kriegführung und zur Schwierigkeit, einen Ausstieg aus dem Kriegsgeschehen zu finden, bei und sie hatte auf einer technischeren Ebene ein Gegenstück, nämlich die Diskrepanz zwischen der wachsenden Zerstörungskraft der Artillerie und der Schwierigkeit, Kommunikationsmittel zu finden, die es erlaubt hätten, sie zielgerichtet zu steuern - wieder ein Punkt, der den Ersten Weltkrieg mit seiner Abhängigkeit von (zer-)störungsabhängigen Telefonleitungen und Meldegängern vom Zweiten Weltkrieg unterschied.

Leonhards zweite Frage zielt auf die Wechselwirkung zwischen dem Krieg und der Veränderung multiethnischer Imperien oder Staaten. Leonhard insistiert auf der relativen Stabilität auch multinationaler Reiche vor 1914 und verfolgt in seiner Erzählung minutiös, wie ungleiche Verteilung der Lasten, staatliche Diskriminierung, das Taktieren nationaler Bewegungen, Schauprozesse gegen "Verräter" und die Handlungen der jeweiligen Sieger (vor allem der deutschen Besatzer in Ostmitteleuropa) dazu führten, dass multinationale Reiche nach 1918 kaum mehr denkbar waren, ohne dass aber klar gewesen wäre, was an ihre Stelle treten konnte.

Diese Entwicklung wiederum bildet den Ausgangspunkt der dritten Frage nach den mittelfristigen Folgen des Krieges. Anders, als man vielleicht erwarten könnte, spielen die Modalitäten des Friedensschlusses von 1919 keine große Rolle, denn Leonhards konsequent europäisch-nordatlantische Perspektive legt es nahe, nicht von einem Ende des Krieges, sondern von der Eröffnung von "Gewalträumen" zu sprechen, in denen politische, ethnische, nationale und soziale Konflikte zunehmend nicht mehr eingehegt, sondern in den Nachfolgestaaten der Imperien immer weiter entgrenzt wurden. Allenfalls in der Mitte Europas, im Westen Europas und in Nordamerika gelang es, die innenpolitischen Rückwirkungen der Gewalt an der Front einigermaßen einzuhegen - aber eben (mit Blick auf Irland, den zweiten Ku-Klux-Klan in den USA, die Polarisierung der französischen Innenpolitik und die vielen Krisen der Weimarer Republik) wirklich nur einigermaßen.

Im Gegensatz zu manchen Jubiläumsbüchern folgt Leonhards Zugriff konsequent aus seinen bisherigen Forschungen zur Ideengeschichte der europäischen Politik, zum "Bellizismus" in seinen europäischen und nordamerikanischen Varianten und zu Imperien im 19. Jahrhundert. Seine Geschichte des Ersten Weltkriegs ist ein großer Wurf, gerade - und darauf muss man, scheint mir, insistieren - weil es sich nicht um eine "Totalgeschichte" des Krieges handelt, sondern um eine neue, ausführlich begründete, detailliert vorgetragene, systematische Interpretation, die - selbstverständlich - zur Diskussion einlädt. Gerade das Deutungsmuster, den Ersten Weltkrieg durch das Auseinanderklaffen zwischen Erwartungen und Erfahrungen zu analysieren, lädt zu Vergleichen mit anderen großen Konflikten ein, deren Dynamik so noch selten diskutiert wurden; auch die Diskussion der Relevanz dieser Diskrepanz, die Leonhard vor allem für die politischen, militärischen und intellektuellen Eliten analysiert, für andere gesellschaftliche Schichten und in unterschiedlichen Gewalträumen dürften interessante Debatten hervorrufen, welche nicht nur die Weltkriegshistoriographie befruchten werden. Leonhards bemerkenswertes Werk hat dafür bereits Maßstäbe gesetzt.


Anmerkungen:

[1] Andreas Kilb: Der Historiker Jörg Friedrich träumt davon, wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg hätten gewinnen können, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. Mai 2014, 33.

[2] Hans-Ulrich Wehler: "Beginn einer neuen Epoche der Weltkriegsgeschichte", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Mai 2014, 10.

[3] Volker Berghahn: Der Erste Weltkrieg, 5. Auflage, München 2014.

[4] Gerhard Henke-Bockschatz: Der Erste Weltkrieg: Eine kurze Geschichte, Stuttgart 2014; Oliver Janz: 14: Der Große Krieg, Frankfurt/M. 2013.

[5] Hew Strachan: The First World War. Bislang erschienen: Bd. 1, To Arms, Oxford 2001.

[6] Jay Winter (ed.): The Cambridge History of the First World War. 3 vol., Cambridge 2014.

[7] Christopher Clark: The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914, London 2012.

Andreas Fahrmeir