Liat Steir-Livny: Let the Memorial Hill Remember. Holocaust Representation in Israeli Popular Culture, Tel Aviv: Resling 2014, 199 S., ISBN 0058500011637, ILS 69,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Yaakov Sharett (ed.): The Reparations Controversy. The Jewish State and German Money in the Shadow of the Holocaust 1951-1952, Berlin: De Gruyter 2011
Shlomo Sand: Israel-Palestine. Reflexions on Binationalism, Tel Aviv: Resling 2023
Karl Erich Grözinger: Jüdisches Denken. Theologie - Philosophie - Mystik. Band 4: Zionismus und Schoah, Frankfurt/M.: Campus 2015
Ist Israels staatsoffizielle Shoah-Gedenkkultur zu einer so unerträglichen Last geworden - vor allem für die sogenannte zweite und dritte Generation -, dass eine neue Erinnerung notwendig wäre? Die israelische Kulturwissenschaftlerin und Gedenkkulturforscherin Liat Steir-Livny geht in ihrem Buch davon aus und stellt die Frage: Käme eine Erinnerung, die dem Holocaust auch mit Humor, Politisierung und Ethnisierung begegnet, unbedingt einer Abwertung des in Israel so sakrosankt gelebten Shoah-Gedenkens gleich? Die Autorin - selbst Angehörige der dritten Generation - verneint die Frage und konstatiert eine seit Mitte der 1980er Jahre in der israelischen politischen Kultur etablierte "Neue Erinnerung".
Über einen kulturwissenschaftlichen Ansatz erschließt die am Sapir College in Ashdot und an der Open University in Tel Aviv lehrende Autorin eine tief greifende, historisch gewachsene Entwicklung, welche die etablierte, von Pathos und Trauer geprägte staatliche Erinnerung ernsthaft herausfordere. Von einer verbreiteten Kritik an diesem Prozess ausgehend, begegnet die junge Wissenschaftlerin einer Verwandlung der Erinnerung nicht nur mit großer Sympathie, sie hält sie auch für unerlässlich, um das Seelenheil der Überlebenden und deren Nachkommen zu gewährleisten.
Let the Memorial Hill Remember trägt ein Gedicht von Jehuda Amichai vom Jahr 1985 im Titel. Dabei thematisiert der verstorbene Lyriker die unerträgliche Last der staatlichen Holocaust-Gedenkkultur. In Anlehnung an Amichais Ansatz verwendet Steir-Livny exemplarisch Texte aus der populären Kultur des Landes (Kino, Fernsehen, Presse, Literatur, Theater); auch Facebook-Einträge und Blogs werden herangezogen. Diesem Materialkorpus lassen sich zwei Erzählweisen entnehmen: zum einen die erneute Vergegenwärtigung des Traumas, zum anderen - und dies interessiert die Autorin besonders - die Distanzierung, Vertuschung, Verdrängung. Nichts Verbotenes, nichts Verleugnetes sei hier im Spiel, vielmehr eine natürliche Dynamik des Selbstschutzes einer von Trauer und Traumata geplagten politischen Kultur.
Drei Themenkomplexe - begriffen als "Schutzmechanismen" - werden behandelt: Humor, Politisierung und Ethnisierung. Im ersten Kapitel: "Ist das Lachen nun doch erlaubt? Humor, Satire und Parodie der Shoah" werden ausgewählte humoristische Arbeiten - vor allem aus der zweiten und dritten Generation - vorgestellt. Gerade Nachkommen von Überlebenden hätten im sogenannten Shoah-Humor eine geeignete Form der Auseinandersetzung mit einer immer erdrückenderen offiziellen Gedenkkultur gefunden. Diese suchten gleichsam im Trauma zu schwelgen, "es geradezu 'auszuleben'" (76). Der humoristische Umgang mit der Shoah diene demnach der "emotionalen Distanz" vom historischen Ereignis ebenso wie von der eigenen Erfahrung mit den Überlebenden.
Das zweite Kapitel thematisiert die "Politisierung der Shaoh in der israelischen (Gedenk)Kultur". Politisierung meint hier die Einbeziehung des Nahostkonflikts in den großen Topos Shoah/Gedenken. Gegenstand der Analyse ist dabei die innerisraelische Debatte zwischen dem Linkszionismus und dem Rechtzionismus über den israelisch-arabischen, vor allem aber den israelisch-palästinensischen Konflikt. Beide politischen Lager würden bestimmte Begriffe gebrauchen, um sich zu positionieren: Während die israelische Rechte den "arabischen" Feind allzu schnell mit den Nazis vergleiche, wenn nicht gleichsetze, um damit unter anderem ihre Verhandlungsverweigerung zu rechtfertigen, mache die israelische Linke Anleihen in der NS-Vergangenheit, um Israels Besatzungs- bzw. Palästinenserpolitik zu beschreiben und ihrer Kritik an Israels "Gewaltordnung" Ausdruck zu verleihen. Das Phänomen der Intensivierung der Shoah- bzw. NS-Images im politischen Diskurs Israels um den Nahostkonflikt ist für Liat Steir-Livny wichtig, denn durch die Überflutung des öffentlichen Raums mit Bezügen auf die Shoah werde das furchtbare historische Ereignis gewissermaßen neutralisiert, "seiner eigentlichen Bedeutung entleert [...], sodass es nicht mehr so erschreckend wirkt" (111 f.).
Übertreibung als Strategie kollektiver Therapie? Tatsächlich folgt Steir-Livny dieser Argumentationslinie auch in Bezug auf die sogenannten Misrahim. Im dritten Themenkomplex - "Ethnisierung der Shoah" - wird der Umgang israelisch-jüdischer Kulturschaffender arabischer Herkunft mit Israels Shoah-Gedenkkultur behandelt. Die Misrahim sähen sich in ihren Arbeiten mit zwei Problemen konfrontiert: Zum einen habe die etablierte Erinnerung die (wenn auch verhältnismäßig wenigen) Opfer unter den nordafrikanischen Juden sehr lange ignoriert. Zum anderen sei der Holocaust als Trauma des jüdischen Volks alsbald konstitutiv für das neue israelische Selbstverständnis geworden; da aber die Shoah ausschließlich als jüdisch-europäische, sprich aschkenasische Angelegenheit erachtet worden sei, hätten sich die jüdischen Israelis arabischer Herkunft darin nicht wiederfinden können. Insbesondere dieser Punkt sei von Kulturschaffenden aus den Reihen der Misrahim in einer Weise aufgegriffen und zum Gegenstand ihrer Anklage gemacht worden, dass auch hier der gegenwärtige innerjüdisch-ethnische Konflikt den Holocaust als geschichtliches Ereignis überlagert, ja aus dem Bewusstsein verdrängt habe. "Ethnisierung der Shoah" meint hier also einen von Mishrahim selbst praktizierten und durch sie letztlich erzeugten (neuen) Diskurs, der die "problematische" - da aschkenasisch orientierte - Gedenkkultur herausfordere und so seinen Beitrag zur "Neuen Erinnerung" leiste.
Doch inwiefern unterscheidet sich die "alte" von dieser "Neuen Erinnerung"? Noch wichtiger: Worin besteht ihr Wesen? Gerade weil die etablierte Gedenkkultur kaum erwähnt, geschweige denn thematisiert wird, bleibt die (im hebräischen Untertitel auch genannte) "Neue Erinnerung" undefiniert, unfassbar, ja diffus. Zwar wird auf seit Mitte der 1980er Jahre erkennbare Dynamiken der Erinnerung verwiesen, doch wirklich fassen kann der Leser die "Neue Erinnerung" nicht.
Auch die Aufteilung der Themenschwerpunkte Humor, Politisierung und Ethnisierung wirkt etwas willkürlich: Satire oder Parodie der Katastrophe sind durchaus politisch oder gar ethnisch behandelt worden; Politisierung der Shoah ist ein viel zu allgemeiner Begriff, um ihn nur auf die innerisraelische Debatte über den Nahostkonflikt zu beschränken. Und: nicht alleine aschkenasische sondern auch Misrahi-Kulturschaffende befassen sich mit Humor oder mit dem Zusammenhang Shoah/Gedenkkultur/Konflikt (vgl. Eyal Sivan mit seinem Film "Yzkor. Sklaven der Erinnerung" von 1990). Schließlich: "Ethnisierung der Shoah" ist missverständlich, geht es doch vor allem um die Misrahim und Israels Shoah-Gedenkkultur, ohne dass das im Titel kenntlich gemacht worden wäre.
Eine letzte Anmerkung zum wirklich interessanten, innovativen Entlastungsansatz der "Neuen Erinnerung": Die Autorin konstatiert Dynamiken der etablierten Erinnerung, die gewissermaßen die Domestizierung der Erinnerung in Israels politischer Gedenkkultur ermöglichen und damit den Schrecken des Ereignisses quasi neutralisieren. Was aber hier unbeachtet bleibt, ist gerade das Entlastungspotential der seit der Staatsgründung bis in die heutige Zeit hinein gelebten zionistisch-staatoffiziellen Erinnerung. Der Zionismus Israels wusste nämlich schon früh genug das Erschreckende, mithin das Unausgesprochene der Katastrophe in seine Geschichte so zu integrieren, dass er auch dem Unfassbaren eine gewisse Struktur und dem Bruch in der jüdischen Geschichte eine gewisse Kontinuität verlieh. Denkt man an ein zentrales Motiv der zionistischen Erinnerung - von Shoah zur Tkumah (hebräisch Wiederaufrichtung) -, wird man nachvollziehen können, weshalb gerade dieses Motiv in Israel noch immer eine große (Symbol)Kraft besitzt. Let the Memorial Hill Remember als Ansatz zur Domestizierung der Erinnerung, damit zur Entlastung vom Ereignis selbst ist zwar verständlich, gerade weil er eine junge Forschungsrichtung verkörpert, der sich vom alten, erdrückenden Narrativ gewissermaßen befreien will. Doch die Analyse bleibt durchgehend oberflächlich, die "Neue Erinnerung" ein wenig blass und nicht wirklich entlastend.
Tamar Amar-Dahl