Hendrik Niether: Leipziger Juden und die DDR. Eine Existenzerfahrung im Kalten Krieg (= Schriften des Dubnow-Instituts; Bd. 21), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 348 S., ISBN 978-3-525-36997-5, EUR 44,99
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Wer sich mit der Geschichte der Juden in der DDR beschäftigt, ist zunächst mit sehr gegensätzlichen Ansichten konfrontiert. Dabei fällt auf, dass die Diskussion bisher sehr stark auf die Rolle des SED-Staates verkürzt wurde, sei es als antisemitisches Regime oder als Förderer jüdischen Lebens. Da liegt es nahe, die jüdischen Gemeinden selbst als Akteure in den Blick zu nehmen. Genau diesen Weg geht Hendrik Niether in seiner an der Universität Jena erarbeiteten Dissertation. Der Autor lehnt sich dabei an neuere Trends der DDR-Forschung an, indem er lokalgeschichtliche und transnationale Perspektiven verknüpft. Dadurch vermeidet er erstens eine einseitig herrschaftszentrierte Untersuchung und kann, zweitens, die sozialen Beziehungen der Leipziger Juden untereinander, ins westliche Ausland und nach Israel in das Zentrum der Untersuchung rücken. Er konzentriert sich auf "Ambivalenzen im Handeln und Wechselwirkungen zwischen dem SED-Regime und jüdischen Bürgern" sowie auf das "Verhältnis der Emigranten zur Heimatstadt" (12). Mit Leipzig nimmt der Autor eine jüdische Gemeinde in den Blick, die am Ende des 2. Weltkrieges kaum mehr als 300 Personen umfasste und sich bis zum Ende der DDR auf etwa ein Zehntel dessen verkleinerte. Die Leipziger Gemeinde bildet damit einen typischen Fall ab. Parallel erweitert Niether das Blickfeld auf kommunistische Juden in Leipzig, die dem Gemeindeleben zum großen Teil distanziert gegenüberstanden.
Die Studie ist in drei Teile gegliedert, die sich sehr deutlich an der klassischen Periodisierung der DDR-Geschichte orientieren. Damit vergibt Niether die Chance, das Potential lokalgeschichtlicher und transnationaler Zugriffe in Gänze auszuschöpfen. Auch lassen die Kapitelüberschriften (Die SBZ, Der Kalte Krieg, Die Ära Honecker) erkennen, dass der Schwerpunkt der Arbeit auf den Auswirkungen der SED-Politik auf inner-gemeindliche und transnationale Beziehungen liegt. Lokale Besonderheiten und transnationale Aspekte wie Wissenstransfers treten dabei eher in den Hintergrund, bleiben aber nicht unerwähnt. Die Kapitelterminologie führt überdies zu Irritationen, insbesondere wenn Niether die Ära Honecker mit dem Jahr 1967 beginnen lässt, obwohl es in diesem Jahr nicht zu einem Wechsel an der Spitze der SED-Führung, sondern nur im Vorstand der jüdischen Gemeinde in Leipzig kam. Es handelt sich somit um eine lokalgeschichtliche Zäsur.
Dies überrascht aber insofern nicht, als Niether mit seiner Studie Neuland betritt und sich im Umfeld polarisierender Debatten verorten muss. Dies gelingt ihm in mustergültiger Weise. Er hat hierfür in nicht weniger als 21 Archiven des In- und Auslands geforscht. Schon das allein verdient eine besondere Anerkennung. Niether fördert dadurch viel Neues zutage. Er zeichnet nach, wie die antizionistische und zeitweise auch antisemitisch gefärbte Politik der SED das Gemeindeleben veränderte und die lokale Erinnerungspolitik prägte. Aber auch die Abgrenzung der Gemeinde gegenüber kommunistisch gesinnten Juden wird thematisiert.
Der anfangs unsensible Umgang der Behörden mit den Überlebenden Ende der 1940er Jahre schlug in starkes Misstrauen um und steigerte sich in den 1950er Jahren zur Repression. Außerdem wurde im offiziellen Diskurs die israelische Politik gegenüber den arabischen Staaten mit der nationalsozialistischen Kriegsführung zunehmend gleichgesetzt. Die Vorsitzenden der Leipziger jüdischen Gemeinde und zahlreiche Mitglieder reagierten hierauf mit "Republikflucht". Eine weitere Konsequenz war, dass sich die Gemeinde aus der Öffentlichkeit zurückzog. Kurioserweise begannen nun die orthodoxen Mitglieder, namentlich Emanuel Henik und Eugen Gollomb, sich ihrer politischen Umwelt anzupassen. Eine Erklärung hierfür kann Niether allerdings nicht anbieten. Obwohl die innergemeindlichen Auseinandersetzungen mit der Wahl Heniks zum Vorsitzenden 1961 ihr Ende fanden, musste die Gemeinde angesichts des Mangels an Rabbinern, Vorbetern und Kantoren Kompromisse eingehen, die dem orthodoxen Vorstand empfindliche Zugeständnisse abnötigten. Auch die direkten Kontakte zu den aus Leipzig emigrierten Juden riss trotz der Bildung von Ehemaligenverbänden und des Kontakts zu internationalen jüdischen Organisationen wenige Jahre nach der Gründung der DDR ab. Viele lehnten den Kommunismus ab, andere fürchteten die Rückkehr in die einstige deutsche Heimat. Dennoch bewahrte sich die Leipziger Gemeinde, ungeachtet der antizionistischen Anfeindungen der SED, ihre proisraelische Haltung.
Auch wenn sich die SED-Führung nach dem Mauerbau zunehmend als Förderin jüdischen Lebens präsentierte, mussten sich die Gemeinden hierfür loyal verhalten und den offiziellen Kurs mittragen. Im Gegenzug erhielt die Leipziger Gemeinde finanzielle Unterstützung und auch der direkte Austausch mit Juden im westlichen Ausland intensivierte sich allmählich wieder. Begünstigt wurde dies nicht zuletzt durch ein wachsendes Interesse emigrierter Juden an der deutsch-jüdischen Geschichte Leipzigs.
1967 übernahm der streitbare Eugen Gollomb den Vorsitz der Leipziger Gemeinde, der auch gegenüber den Staats- und Parteifunktionären in Berlin keinen Hehl aus seiner zionistischen Grundhaltung machte. Auch vor Ort engagierte sich Gollomb für die kulturelle Repräsentation der Leipziger Gemeinde. Im Dialog mit lokalhistorischen und christlichen Akteuren ("Arbeitsgemeinschaft Kirche und Judentum") gelang es ihm, die jüdische Geschichte in das Kulturleben der Stadt zurückkehren zu lassen. Die Erinnerungspolitik blieb allerdings auf den lokalen Raum beschränkt und stieß nur auf begrenztes Interesse. Parallel dazu nahmen antisemitische Aktionen vor Ort zu. Gleichwohl stieg das Interesse der auf internationales Prestige bedachten SED-Führung an der jüdischen Kultur, das im Gedenken an die Pogromnacht im Jahr 1988 kulminierte. Unter diesen Bedingungen verbesserten sich auch die Kontakte zu den jüdischen Organisationen im westlichen Ausland. Offizielle Pressegespräche wurden geführt, Archive, nicht zuletzt durch die Vermittlung lokaler Akteure, geöffnet. Die jüdische Gemeinde Leipzigs blieb trotz allem bis zuletzt unter misstrauischer Beobachtung.
Am Ende überwiegt ein insgesamt sehr positiver Eindruck von Niethers Studie. Auch wenn die Anordnung des Materials Anlass zur Kritik gibt, gelingt es ihm, einen differenzierten Beitrag zu einem ansonsten sehr von emotionaler Befangenheit geprägten Thema zu leisten. Er zeigt, dass jüdisches Leben in der DDR gleichermaßen von Anpassung und Selbstbehauptung geprägt war. Zudem kann Niether durch die Einbeziehung transnationaler Beziehungen eine zusätzliche Erklärung dafür anbieten, warum sich die jüdische Gemeinde in Leipzig trotz der Pressionen und des dramatischen Mitgliederschwunds letztlich nicht aufgab. Weiterführende Studien zur Geschichte der Juden in der DDR, die in der Arbeit von Niether zahlreiche Anknüpfungspunkte finden, werden an diesem Buch nicht vorbeikommen.
Christian Rau