Frank Britsche: Historische Feiern im 19. Jahrhundert. Eine Studie zur Geschichtskultur Leipzigs, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2016, 258 S., ISBN 978-3-96023-039-7, EUR 33,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Rainer Eckert: Opposition, Widerstand und Revolution. Widerständiges Verhalten in Leipzig im 19. und 20. Jahrhundert, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2014
Thomas Ahbe / Michael Hofmann / Volker Stiehler (Hgg.): Redefreiheit. Öffentliche Debatten der Bevölkerung im Herbst 1989, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2014
Hendrik Niether: Leipziger Juden und die DDR. Eine Existenzerfahrung im Kalten Krieg, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015
Andrew Demshuk: Bowling for Communism. Urban Ingenuity at the End of East Germany, Ithaca / London: Cornell University Press 2020
Frank Britsche / Lukas Greven (Hgg.): Visual History und Geschichtsdidaktik. (Interdisziplinäre) Impulse und Anregungen für Praxis und Wissenschaft, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2023
Frank Britsche: Geldscheine im Geschichtsunterricht. Historisches Lernen mit Sachquellen, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2020
Forschungen zum Umgang mit Vergangenheit in der Geschichte genießen nach wie vor ein ungebrochenes Interesse in historischen Disziplinen und werden zunehmend interdisziplinär besprochen. Frank Britsches Studie zu historischen Feiern im 19. Jahrhundert in Leipzig bietet einen Beitrag zur Untersuchung der Geschichtskultur und befragt Feiern hinsichtlich ihrer Wirkmacht zur Formung eines kollektiven Geschichtsbewusstseins. Der Autor greift Ansätze der lokalen Festkulturforschung auf, denen mit Blick auf historische Feiern für die Region Leipzig bisher nicht nachgegangen wurde (12).
In der Einleitung wird die erkenntnisleitende Frage vorgestellt, inwieweit sich "der historische Festtypus der Erinnerungsfeier im 19. Jahrhundert in Leipzig entwickelt [hat] und wie [...] dieser von sozialen Gruppen geschichtskulturell angeeignet [wurde]" (18). Um die Genese der Erinnerungsfeiern herauszuarbeiten, bestimmt Britsche in seiner klar strukturierten Publikation diese Feiern zunächst als eigenständige Kategorie innerhalb historischer Feiertypen. Deren Anlass sei "ein dezidiert historischer", wie zum Beispiel "ein konkretes Ereignis" beziehungsweise "Phänomene, die im kulturellen Gedächtnis der jeweiligen Zeit gespeichert und erinnert werden [...]" (37).
Die Kapitel II bis IV bieten als Kernstück der Arbeit Fallstudien zu Erinnerungsfeiern zwischen 1840 und 1882. Unter lokalen, nationalen und transnationalen Aspekten werden diese Ereignisse untersucht und hinsichtlich ihrer politischen, medialen, und kulturellen Dimensionen befragt. Die Erinnerungsfeier zur Erfindung der Buchdruckerkunst 1840 bildet den Auftakt der Untersuchung und wird als Beispiel städtischen Erinnerns gedeutet und auf lokaler Ebene mit weiteren "Gutenbergfeiern" in Beziehung gesetzt (39-105). Es folgt eine umfassende Betrachtung der Leipziger Schillerfeier 1859 anlässlich des 100. Geburtstages des Dichters. Da im deutschsprachigen Raum über 400 solcher Schillerfeiern veranstaltet wurden, wird die Leipziger Veranstaltung auf nationaler Ebene kontextualisiert (107-164). Die abschließende Fallstudie widmet sich der Erinnerungsfeier an die Schlacht bei Lützen und den Schwedenkönig 1882 als Ereignis transnationalen Gedenkens zum Todestag Gustav II. Adolfs. Entsprechend wird das Ereignis vergleichbaren Feiern im skandinavischen Raum gegenübergestellt (165-210). In seiner Analyse der Fallstudien gelingt es Britsche also, einen diachronen Zugang in dem von Transformationsprozessen besonders geprägten 19. Jahrhundert mit synchronen Vergleichen ähnlicher Feiern in anderen Städten und Ländern zu verbinden. Mit mehreren zehntausend Zuschauern pro Feierlichkeit, benennt Britsche die gewählten Fallbeispiele als "besondere öffentlich begangene Feier[n] [...], [die] ein herausragendes außeralltägliches Ereignis dar[stellen]" (211). Die Vergleichbarkeit der gewählten Beispiele erscheint plausibel und lohnenswert für eine Längsschnittanalyse.
Britsche verschränkt verschiedene Methoden in der Erforschung der einzelnen Erinnerungsfeiern. Er kombiniert dichte Beschreibung, Fallanalysen und hermeneutische Quellendeutung. Vor allem die Sichtung und Auswertung des umfangreichen Quellenbestands aus acht Staats-, Kommunal- und Stadtarchiven, des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig, des Stadtmuseums Dresden sowie der Gustav-Adolf-Gedenkstätte Lützen sind ein besonderer Verdienst der Arbeit. Neben zahlreichen Periodika, Regierungs-, Polizei- und Sachakten sowie Vereinsnachlässen zieht Britsche auch populäre Informationsquellen über das Geschehen der Erinnerungsfeiern heran. Dazu zählen unter anderem Bilder, Beschreibungen, Presseberichte, Werbeanzeigen, Transparente, Gedichte, Reden und Devotionalien. Durch die tiefgreifende Analyse der einzelnen Fallstudien und Berücksichtigung der vielschichtigen Quellenlage, gelingt es Britsche, überzeugend darzulegen, wie die jeweiligen Feiern geschichtspolitisch aufgeladen und welche Vermittlungsabsichten an ein heterogenes Publikum verfolgt wurden. Dabei weist der Autor richtigerweise darauf hin, dass eine ausführliche Analyse des individuellen Rezeptionsverhaltens des Einzelnen nicht abbildbar ist (219).
Die Publikation zeichnet sich durch genau aufeinander abgestimmte Kapitel und eine luzide Argumentationsstruktur aus. In seinen Analysen zeigt Britsche die Bedeutung von historischen Erinnerungsfeiern insbesondere auf kultureller und bildungspolitischer Ebene auf. Zudem macht er plausibel, dass sich die Erinnerungsfeier im Zuge des 19. Jahrhunderts als spezifische Form des Feierns etabliert und dabei eine Vermittlerrolle historischen Bewusstseins übernommen hat. Die besprochenen Ereignisse dienten darüber hinaus als Vergegenwärtigung der Geschichte und als Selbstinszenierung sowie der Identitätsbildung der Orte und ihrer Bürger. Während die Erinnerungsfeier zur Erfindung der Buchdruckerkunst 1840 zur Präsentation Leipzigs als ökonomisch leistungsstarke Stadt auf kommunaler Ebene genutzt wurde, strebte die Schillerfeier 1859 nach nationaler Repräsentation, was zum Teil aus Vergleichen mit anderen Schillerfeiern im deutschsprachigen Raum seitens des Festkomitees hervorgeht. Mit der Erinnerungsfeier an die Schlacht bei Lützen und den Schwedenkönig 1882 betonten die Veranstalter transnationale Bezüge durch deutsche und skandinavische Narrative über Gustav II Adolf (213). Im Zuge von Britsches umfassenden Analysen wird deutlich, dass sich die verschiedenen Erinnerungsfeiern durch gemeinsame kulturelle Komponenten auszeichnen, da in Teilen bestehende Traditionen von Herrscher- und Volksfesten sowie religiösen Feierlichkeiten übernommen und umfunktioniert wurden (211). Dass dabei dem Festumzug eine besondere Stellung zukommt, macht der Autor insbesondere durch die Charakterisierung dieser Umzüge als performativen Akt nachvollziehbar. Das Nachstellen historischer Verfahren aus den frühen Zeiten des Buchdrucks, das Rezitieren von Schillers Werken oder den Einsatz von Tableaux vivants sowie das Tragen historisierender Kostüme wie aus Zeiten Gustav II Adolfs illustrieren Britsches These, dass insbesondere der Festumzug "den Erinnerungsort beziehungsweise die Erinnerungsfigur ausdrucksstark ins kollektive Bewusstsein beförderte und historischen Zeitsinn stiftete" (211).
Die Studie liefert einen fundierten Beitrag zur Erforschung der urbanen Geschichtskultur in historischer Perspektive im mitteldeutschen Raum, der nicht nur die Genese und kulturelle Erscheinung historischer Erinnerungsfeiern in den Blick nimmt, sondern diese Art der Feiern als Aneignungsform und Interpretation von Geschichte sichtbar macht. Mit der perspektivischen Weitung auf geschichtsdidaktische Forschungsmöglichkeiten leistet die Publikation zudem einen bemerkenswerten Beitrag hinsichtlich der Befragung von Erinnerungsfeiern als Form der Konstruktion und Vermittlung von Geschichte. Britsches Zugriff auf die Art der Erschließung von Erinnerungsfeiern liefert einen methodischen Rahmen, der sich auch für nachfolgende Lokalstudien als fruchtbar erweist.
Christin Neubauer