Thomas Ahbe / Michael Hofmann / Volker Stiehler (Hgg.): Redefreiheit. Öffentliche Debatten der Bevölkerung im Herbst 1989, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2014, 751 S., ISBN 978-3-86583-888-9, EUR 39,90
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Im Allgemeinen wird ein Kennzeichen der ostdeutschen Revolution von 1989/90 hervorgehoben: die Friedlichkeit. Das war und ist nicht selbstverständlich. Auch wenn es seitens des SED-Staates zu gewalttätigen Übergriffen in Plauen, Dresden, Ost-Berlin und anderswo kam, so wurde vergleichsweise wenig Gewalt angewendet. Die Besonnenheit und Vernunft der Bürger und Bürgerinnen ist zudem immer wieder gewürdigt worden. Es war von einer "Revolution nach Feierabend" die Rede.
In der DDR-Gesellschaft gab es ein Diskussionsdefizit. Die SED wollte und konnte nicht diskutieren und den Bürgern und Bürgerinnen fehlten demzufolge Ansprechpartner. Nach dem Honecker-Rücktritt Mitte Oktober 1989 versuchte die SED, den Ruf der Straße nach "Dialog" aufzugreifen. Erich Honeckers Nachfolger Egon Krenz reklamierte sogar für sich und seine Partei, den Dialog eröffnet zu haben. Das glaubte ihm zwar niemand, aber tatsächlich begannen nun mittlere Funktionäre öffentlich mit Bürgerinnen und Bürger zu diskutieren. Anfang Oktober 1989 gingen Schauspieler und Intendanten, etwa in Dresden, dazu über, nach Aufführungen mit dem Publikum über die aktuelle Situation zu diskutieren. Der Diskussionsbedarf war immens. Typisch waren auch allerorten heftige Straßendiskussionen, die in Ost-Berlin mit zehntausenden Teilnehmern in der Kongresshalle oder vor dem Roten Rathaus geführt worden sind. Am bekanntesten wurde die Kundgebung vom 4. November 1989, an der etwa 200.000 Menschen teilnahmen und auf der Künstler, Vertreter des alten Regimes sowie Bürgerrechtler sprachen. Auch eine Dresdner Veranstaltung wurde landesweit wahrgenommen, weil sie als Tondokument überliefert worden ist.
Aus Leipzig hingegen, einem Zentrum der Revolution von 1989, waren bislang nur relativ wenige Originalrededokumente aus dem Herbst 1989 bekannt. Das ändert sich nun durch die hier vorgelegte Edition. Die Herausgeber haben elf Diskussionsveranstaltungen zwischen dem 14. Oktober und 12. November 1989 dokumentiert. Davon fanden zwei im Studentenklub der Moritzbastei, vier im Keller des Kabaretts "academixer" und fünf in Räumen des Gewandhauses statt. Zwischen 250 und 1500 Personen nahmen teil, insgesamt etwa 9000 Menschen. 435 Redner und Rednerinnen beteiligten sich aktiv mit 1278 Diskussionsbeiträgen. Das vielleicht historisch bemerkenswerteste Dokument ist dabei nicht einmal mitgezählt. Denn zu Beginn kommt eine "Straßendiskussion" von 2. Oktober 1989 zum Abdruck. Dieses Dokument zeigt eindrücklich, wie aufgebracht, entschlossen, aber auch hilflos die "Straßendebattierer" am Rande einer Demonstration waren. Das gilt auch für die Polizisten, mit denen sie diskutierten. Deren Überforderung ist "unüberhörbar". Typisch an dieser Szene ist etwas anderes: Die Polizisten als Staatsvertreter wurden mit Fragen und Vorwürfen konfrontiert, für die sie weder zuständig waren noch ansatzweise kompetent genug, um diese beantworten zu können. Das ist in nichtdemokratischen Gesellschaften typisch, dass noch kleinste Vertreter des Regimes in Ermangelung anderer für alles Geradestehen sollen, was dem System angelastet wird. Diese hausgemachten Strukturprobleme kamen auch in den Debatten zum Vorschein, die in dem Band dokumentiert sind. Kaum ein gesellschaftliches Problem, das im Herbst 1989 drängte und nicht zur Sprache kam: von allgemeinen politischen, demokratischen und gesellschaftlichen Fragen über die Medienpolitik, das Justiz- und Gesundheitswesen, der Aufarbeitung der Vergangenheit ("weiße Flecken", "Stalinismus") bis hin zu der Frage "Leipzig - Messemetropole oder Provinznest?".
Die Atmosphäre wird für die Beteiligten, deren soziale und politische Zusammensetzung unscharf bleibt, unvergesslich bleiben. Beim heutigen Nachlesen lässt sich nur selten die damals knisternde Spannung erahnen. Dazu sind viele der Wortbeiträge zu langatmig, zu selten auf den Punkt kommend. Insofern ist diese Edition auch ein Dokument dafür, wie eine Gesellschaft begann, sich freies Reden und damit freies Denken anzueignen. Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass der Dirigent Kurt Masur, der die Veranstaltungen im Gewandhaus moderierte, demokratische Verhaltensmuster ebenfalls erst erlernen musste. Ähnlich wie ein Chefarzt war auch der weltberühmte Dirigent Widerspruch nicht gewohnt, er moderierte nicht nur, sondern dirigierte zuweilen in einer Art und Weise, die die Versammlung eigentlich zu überwinden trachtete. Leider haben die Herausgeber darauf verzichtet, dem Buch eine Audio-CD mit Hörbeispielen beizufügen. Das hätte den Wert der Edition beträchtlich erhöht, denn das Lesen der Wortbeiträge grenzt zuweilen an harte Arbeit und nicht wenige Passagen haben durchaus den widerborstigen Charme von internen SED-Parteiversammlungen.
Doch unzweifelhaft liegt mit dieser Dokumentation eine authentische Quelle für den Herbst 1989 vor, die künftig in der Forschung eine Rolle spielen dürfte. Dafür ist den Herausgebern zu danken. Sie haben die Mitschnitte, die nicht vollständig sind, in einer mehrjährigen Arbeit transkribiert. Dies taten sie, was gar nicht hoch genug gewürdigt werden kann, auf eigene Kosten und zunächst ohne Aussicht auf eine Veröffentlichung. Diese kam dann nicht zuletzt deshalb zustande, weil zahlreiche Leipziger Geld dafür spendeten.
Auch wenn diese editorische Leistung Respekt und Anerkennung verdient, so muss in einer wissenschaftlichen Perspektive Kritik geübt werden. Obwohl die Herausgeber Sozialwissenschaftler sind, genügt die Edition kaum geringsten wissenschaftlichen Ansprüchen. Das geht bereits damit los, dass der Band weder ein Personen- und noch ein Sachregister aufweist. Zwar werden im Anhang ein Personen- und ein Sachwortverzeichnis abgedruckt, aber deren Zustandekommen erscheint ebenso zufällig wie die dort aufgeführten Angaben. So tauchen Personen mit einem umfangreichen Eintrag in diesem Verzeichnis auf, die in der mehrhundertseitigen Edition ein einziges Mal erwähnt werden. Ähnliches gilt für das Sachwortverzeichnis. Zugleich kommen in den wiedergegebenen Wortprotokollen viele Personen vor, die nirgends erklärt werden, darunter dutzende, die sich ganz einfach recherchieren ließen. Das betrifft nicht nur Teilnehmer aus dem Auditorium, die sich mit ihrem Namen vorstellten, sondern auch viele Personen, die in den Podien Platz genommen hatten und Rede und Antwort stehen sollten.
Aber nicht nur durch fehlende Register und Personenangaben ist die Edition wenig handhabbar. Die Herausgeber haben überhaupt auf wissenschaftliche Kommentare verzichtet, so dass sich viele Kontexte in den Debattenbeiträgen für Nichtexperten nur schwer erschließen lassen. Auch wenn die Bundeszentrale für politische Bildung diesen Band in ihre Schriftenreihe aufgenommen und damit das löbliche Engagement der Herausgeber unterstützt hat, stellt sich die Frage, wie mit diesem umfangreichen, aber unfertigen Werk in der politischen Bildung gearbeitet werden kann. Insgesamt liegt mit diesem Buch eine interessante neue Quelle vor, die nach wissenschaftlichen Maßstäben erst noch erschlossen werden muss. Insofern haben die Herausgeber einen Schatz entdeckt, den sie aber selbst nicht restlos zu heben vermochten.
Ilko-Sascha Kowalczuk