Władysław Bartoszewski: Mein Auschwitz. Übersetzt von Sandra Ewers und Agnieszka Grzybkowska, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 282 S., mit Fotos und Zeichnungen, ISBN 978-3-506-78119-2, EUR 29,90
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Am 24. April 2015 erlitt Władysław Bartoszewski, der Beauftragte der polnischen Regierung für internationale Beziehungen, einen Schwächeanfall und starb wenig später im Krankenhaus. Er war 93 Jahre alt und bis zuletzt ungebrochen aktiv. Sein soeben in deutscher Übersetzung erschienenes Buch Mein Auschwitz, das auf Polnisch 2010 publiziert worden war, ist damit zu einer letzten Botschaft an die deutschen Leser geworden. Es enthält die Aufzeichnung eines langen Interviews, das Piotr M. A. Cywiński, der Direktor der Gedenkstätte Auschwitz, und Marek Zając, der Sekretär des Internationalen Auschwitzrats, zwischen November 2009 und Juni 2010 mit ihm geführt haben und eine Reihe von Texten, die Bartoszewski selbst ausgewählt hat, welche seine Lagererfahrung widerspiegeln. Dabei handelt es sich vor allem um Berichte, die bereits in der polnischen Untergrund-Publizistik während des Krieges erschienen waren. Sie geben die unmittelbarsten Eindrücke polnischer KZ-Verfolgter wieder und waren zugleich Akte des Widerstandes.
Bartoszewski ist hierzulande kein Unbekannter: Er war in den 1980er Jahren Gastprofessor an deutschen Universitäten - im Exil, denn zuhause war er als Aktivist der Solidarność-Bewegung infolge der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 interniert worden. Schon im jungen "Volkspolen" war er als Gegner der kommunistischen Herrschaft zwischen 1946 und 1954 insgesamt mehr als sechs Jahre inhaftiert gewesen. 1986 wurde Bartoszewski mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft fungierte er von 1990 bis 1995 als Botschafter in Österreich sowie zweimal, 1995 und 2000/2001 als Außenminister seines Landes. Als Außenminister hielt er am 28. April 1995 die Hauptrede bei der Gedenkveranstaltung von Bundestag und Bundesrat zum 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs.
Bartoszewski war ein Mann der Versöhnung, aber kein Anhänger fauler Kompromisse. Gegen das von der nationalkonservativen Vertriebenenfunktionärin Erika Steinbach betriebene Projekt eines "Zentrums gegen Vertreibungen" bezog er klar Stellung (wobei er eine entsprechende Einrichtung europäischen Zuschnitts durchaus bejahte) und erhielt von dieser 2010 dafür die Kopfnote, er habe "einen schlechten Charakter". In Israel hatte man das etwas anders gesehen. Die erste seiner zahlreichen Auszeichnungen war die als "Gerechter unter den Völkern" 1965. Yad Vashem ehrte ihn für sein Engagement in der polnischen Untergrundorganisation "Rat für die Unterstützung der Juden" ("Żegota"), die offiziell der polnischen Exilregierung unterstand. Das war nur einer der Zweige des polnischen Widerstands, in der der seit Sommer 1942 auf die Armija Krajowa (AK) vereidigte Bartoszewski aktiv war. Mit der Waffe kämpfte er allerdings nicht, sondern war als Organisator, Dokumentar und Journalist tätig. In seiner Nachkriegskarriere als Politiker, Publizist und Historiker knüpfte er an diese Erfahrungen an. Eine ganze Reihe seiner seit Anfang der 1960er Jahre publizierten Bücher, die sich mit der Erfahrung nationalsozialistischer Besatzungspolitik in Polen, der Shoah und der Nachkriegsgeschichte seines Landes sowie der deutsch-polnischen Verständigung befassen, ist auch hierzulande veröffentlicht worden. Doch nirgends hat er so ausführlich und eindringlich Auskunft gegeben über die Urerfahrung, die seinem Engagement zugrunde lag - seine Haftzeit im KZ Auschwitz vom September 1940 bis zum April 1941 - wie in dem Buch Mein Auschwitz.
Als 18-jähriger Mitarbeiter des Polnischen Roten Kreuzes war er am 19. September 1940 bei einer Razzia festgenommen und drei Tage später mit dem 1.705 Häftlinge umfassenden sogenannten zweiten Warschauer Transport ins KZ Auschwitz eingeliefert worden. Auschwitz war damals, von einigen deutschen Kapos abgesehen, die aus Sachsenhausen überstellt worden waren, ein fast ausschließlich "polnisches" Lager, in dem Widerständler und Angehörige der Intelligenz festgehalten und gequält wurden. Über seine Erfahrung mit diesem Ort des Terrors, wo vollkommene Perspektivlosigkeit mit permanenten brutalen und nicht selten lebensgefährlichen Schlägen, Mangelernährung, erschöpfender Arbeit und dazu Appellstehen, Hunger, Kälte, unerträglichen hygienischen Verhältnissen, dem Fehlen jeglicher Privatheit und dem tagtäglichen Tod von Mithäftlingen einhergingen, gibt Bartoszewski in dem Interview, das den ersten Beitrag des Bandes bildet, detailliert Auskunft. Dieses knapp 100 Seiten umfassende Zeugnis eröffnet in seinem Bemühen um Präzision, Anschaulichkeit und Vermeidung jeglicher pathetischer Überhöhung bedrückende Einblicke in die Lagerwelt, wie sie von dem bis dahin behüteten, bildungsbürgerlichen Jüngling Bartoszewski erlebt wurde. Als hilfreich - nicht nur für ihn selbst - erwiesen sich die guten Deutschkenntnisse, die er auf dem Gymnasium erworben hatte. Davor, als Funktionshäftling eingesetzt zu werden, schützte ihn indes sein jugendliches Alter. Überdies erkrankte er nach den ersten Monaten schwer, nicht zuletzt in Folge eines erschöpfenden Strafappells, und kam in den Krankenbau. Hier lernte er Adam Heydel kennen, einen der am 6. November 1939 verhafteten Professoren der Krakauer Jagellionen-Universität ("Sonderaktion Krakau"), dem das Buch gewidmet ist. Heydel war nach dreimonatiger Haft im KZ Sachsenhausen freigelassen worden und hatte sich im Untergrund betätigt, was zur Wiederverhaftung und Einlieferung nach Auschwitz führte. Der bildungshungrige Bartoszewski verbrachte viel Zeit mit Gesprächen an seinem Krankenbett. Am 14. März 1941 wurde Heydel abgeholt und in Unterwäsche, barfuß und die Hände mit Draht auf den Rücken gefesselt zur Kiesgrube gebracht, wo er mit 71 weiteren politischen Häftlingen erschossen wurde. Bartoszewski wurde wenig später, vermutlich auf Drängen des polnischen Roten Kreuzes, als einer von wenigen Hundert Auschwitz-Häftlingen schwer krank und tief erschöpft entlassen.
Auch über die Anfänge seiner Untergrundtätigkeit nach der Haft berichtet Bartoszewski in dem Interview, wenn auch nicht ausführlich; bemerkenswert ist aber, wie seine angesichts der Auschwitzerfahrung leicht nachvollziehbare Ablehnung alles Deutschen unter dem Eindruck der in Polen bekanntgewordenen Predigten des Grafen Galen gegen die "Euthanasie"-Morde und der Flugblätter der Weißen Rose einer differenzierteren Haltung wich. "Hans Scholl hatte darin unter anderem von den Warschauer Straßenrazzien und der Deportationen von Frauen in Bordelle im Reichsgebiet geschrieben", erinnert er sich. (96)
Die eigenen Erinnerungen hat Bartoszewski mit Zeugnissen ergänzt, die seine 199tägige Auschwitzerfahrung widerspiegeln. Dazu gibt er schon im Vorwort zu bedenken: "Alle Häftlinge waren in ein und demselben Auschwitz, doch gleichzeitig war jeder in seinem ganz eigenen. Es gab unterschiedliche Kreise der Hölle und unterschiedliche Erfahrungen. [...] So muss man sich bewusst sein, dass die Geschichte von Auschwitz die Summe individueller Schicksale, Leiden und Erinnerungen ist. Und es darf nicht vergessen werden, dass diese Geschichte niemals zu Ende erzählt werden wird. Denn wir werden nie Gelegenheit haben, die Erzählungen der Hunderttausenden kennenzulernen, die in diesem Lager ermordet wurden." (11f.)
Ein Bildteil mit erkennungsdienstlichen Fotos einer Reihe in Bartoszewskis Bericht erwähnter Mithäftlinge gibt seinen Schilderungen zusätzliche Anschaulichkeit. Sein eigenes Haftporträt ist auf der Titelseite wiedergegeben. Ein zweiter Bildteil bringt Zeichnungen über Situationen des Lageralltags. Die von Bartoszewski zusammengestellte Auschwitz-Anthologie beginnt mit dem von der Untergrundpublizistin Halina Krahelska verfassten und 1942 illegal publizierten Text Auschwitz. Erinnerungen eines Häftlings. Er stützt sich zu großen Teilen auf das, was Bartoszewski nach seiner Entlassung der befreundeten Hanka Czaki berichtet hatte, die für die Informations- und Propagandaabteilung der Heimatarmee arbeitete, wie später dann auch Bartoszewski selbst. Ein zweiter, ebenfalls 1942 im Untergrund mit einer Auflage von 3.000 Exemplaren erschienener und später in 5.000 Stück nachgedruckter Report in dieser Anthologie stammt von der bekannten Schriftstellerin Zofia Kossak, die auch eine der Initiatorinnen der "Żegota" war. Er behandelt die Lage in verschiedenen Konzentrationslagern, darunter auch Sachsenhausen und Dachau. In der Hölle, lautet sein bezeichnender Titel. Diese Texte werden, ebenso wie der 1945 in Krakau unter dem Autorenpseudonym "Pater Augustin" erschienene Bericht eines polnischen Auschwitzüberlebenden weitgehend ohne Kommentierung abgedruckt. Sie verlangen eine historisch-kritische Lektüre, doch ist diese für deutschsprachige, nicht des Polnischen mächtige Leser erst jetzt möglich geworden, denn Bartoszewskis Anthologie bringt die viel beachteten Untergrund-Publikationen über deutsche KZ-Verbrechen gegen Polen erstmals in deutscher Übersetzung. Ergänzt werden sie durch einen Aufsatz über die polnischen Untergrundpublikationen zu Auschwitz aus seiner Feder.
Auf Deutsch zugänglich war hingegen bereits Jerzy Andrzejewskijs ebenfalls im Untergrund entstandene Erzählung Der Appell, die auch in die Sammlung aufgenommen wurde. Sie schildert einen besonders berüchtigten Auschwitzer Lager-Appell vom 28. Oktober 1940, und obwohl Andrzejewski nicht im KZ gewesen war, beschreibt er laut Bartoszewski den Appell "als hätte er alles mit meinen Augen gesehen" (49). Die eindrucksvolle Rede Bartoszewskis zum 60. Jahrestag der Befreiung des Lagers komplettiert den Band. Anknüpfend an die Erfahrung des polnischen Widerstands, dessen Warnungen nicht ernst genug genommen wurden - der Name Jan Karskis wird genannt, jenes Emissärs der AK, der 1943 Präsident Roosevelt und andere hohe Amtsträger des Westens über Holocaust in Polen informierte - erklärte er damals, die Welt habe zwar viel, aber nicht genug aus der Erfahrung des Totalitarismus gelernt (277).
Bartoszewski, der seit 1990 bis vor wenigen Jahren dem Internationalen Auschwitzrat vorstand, war für dieses Amt vorgeschlagen worden, weil er als polnischer Patriot und Gerechter der Völker das Vertrauen von polnischen und jüdischen Überlebenden gleichermaßen genoss. Erscheinungen von "Opferkonkurrenz" entgegenzutreten, war ihm dabei ein besonders Anliegen: "Der Mensch hat die Tendenz, sich nur an das eigene Martyrium zu erinnern. Aber man muss doch auch an das Martyrium der anderen erinnern. Nicht alle, vorsichtig ausgedrückt, verstehen das. Dann beginnt ein Wettlauf des Leids, der sinnlos ist. Vollkommen sinnlos." (109) Das zweite große Anliegen war die Erhaltung des authentischen Orts des einstigen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, den er "eine brennende Wunde der Menschheit", einen "sich auf ewig gen Himmel erhebenden Schrei der Opfer" nannte. Knapp fünf Jahre vor seinem Tod beendete Bartoszewski das Gespräch mit seinem Interviewern mit Sätzen, die in der gerade publizierten deutschen Version ganz aktuell und wie ein Abschied klingen: "Ich habe meine Pflicht erfüllt, die mir einst in Auschwitz, im Krankenhaus, auferlegt wurde. Ich habe berichtet, Zeugnis abgelegt. Die Letzten von uns gehen heim. Es bleiben unsere Geschichten - Ihr tätet gut daran, Schlüsse daraus zu ziehen." (110)
Jürgen Zarusky