Patricia Clare Ingham: The Medieval New. Ambivalence in an Age of Innovation (= The Middle Ages Series), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2015, VIII + 277 S., 4 Abb., ISBN 978-0-8122-4706-0, USD 65,00
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Es gibt Bücher, die etwas ratlos machen. "The Medieval New is precise in its methods, pioneering in its claims, and creative in bringing together ethical, literary, theological, and historical concerns" heißt es im Klappentext (als Zitat eines Mediävisten). Worum geht es in diesem Buch mit ungewöhnlichem Titel? (Ein amerikanischer Kollege schüttelte im Gespräch den Kopf über diesen Titel.) "Das Neue" wird hier nach der Einleitung nicht als "Steigbügel" oder als "Entdeckung" verstanden, sondern "The new finds meaning within a larger narrative arc" (1f.): "It is time then, to consider the problem of the new anew." (3) Damit wendet sich die Autorin gegen die Ansicht, das Mittelalter ausschließlich als mit dem "revival of old forms" beschäftigt zu verstehen (was sicher schon seit mehreren Jahrzehnten kaum mehr als neue Erkenntnis zu begreifen ist). Vielmehr sei Neugierde, curiositas, eine bedeutende mittelalterliche Kategorie und lohne die Frage nach der "interpenetration of tradition and terms".
Um solches vorzuführen, gibt im ersten, "Ex Nihilo" betitelten Teil das erste Kapitel einen Überblick über "scholastische Neuheiten" und setzt damit einmal mehr voraus, dass erst die Scholastik neuen Schwung in das veraltete Mittelalter gebracht hätte. Besonders diskutiert werden Thomas von Aquins Formel von der novitas mundi und das Verhältnis von "Gebrauch und Erfindungsreichtum", nämlich in der Rechtfertigung des Neuen als Rückkehr zur Tradition (und auch diese Erkenntnis erscheint nicht irrsinnig neu). Kapitel 2 befasst sich mit Roger Bacon, der überhaupt als Angelpunkt des Neuen angesehen wird, der aber dennoch dezidiert gegen eine andere Neuheit, die neue Magie, und ihre linguistischen Unzulänglichkeiten vorgeht. Das bietet den Ansatz für eine ausführliche Diskussion: Das Neue, so der - nicht wirklich verblüffende - Schluss, bleibt im Mittelalter an die Anforderungen der Tradition gebunden.
Unter der Überschrift "Ingenium" wendet sich der zweite Teil dann der mittelalterlichen Dichtung zu: Chrétiens 'Yvain' (Kapitel 3) und der ausführlich diskutierten mittelenglischen Bearbeitung von 'Floire et Blancheflor' mit ihrer aus der "artistic culture of copying" entzündeten Vitalität. Als "scholastic passions" ist die hier geschilderte junge Liebe verstanden: "the medieval new appears in the guise of charming stories of young lovers". Kapitel 4 behandelt unter dem (nicht recht einsichtigen) Label "Little Nothings" Chaucer's 'Squire Tales' als "desire for the new" mit dem Ergebnis: "the question of the new is equivocally rendered" (130). "The new figured less as a narrative solution to the problem of the unexpected, than as the term for an ambivalent, and equivocal ethical problem of its own" (140). Aber weshalb ist das zweideutig?
Der dritte und letzte Teil steht unter dem Motto "Curiositas". Chaucers 'Canon Yeoman's Tale' dient hier als Beispiel für das Eindringen der Alchimie in die Literatur (Kapitel 5). Kapitel 6 schließlich kommt auf die "Neue Welt" zu sprechen, deren 'Entdecker' Christoph Kolumbus gleichwohl in mittelalterlicher Tradition einen eschatologischen Bericht der neuen Welt gibt, wie auch Mandevilles "delight in newness" ihn dennoch einen ganz aus den Bibliotheken entnommenen Reisebericht verfassen lässt. Erwächst das Neue aus der Tradition? Erklärt werden solche als "Ambivalenz" erkannten Widersprüche nicht, eine Zusammenfassung fehlt zugunsten eines Nachworts, in dem das (spätere) Mittelalter noch einmal zu einem "Age of Innovation" und die Studie zu einer Hilfe erklärt wird, die Krise der Geisteswissenschaften zu überwinden.
Dieses ingeniöse Buch offenbart gleichwohl verschiedene Schwachpunkte: Es ist mit der literaturwissenschaftlichen Ausrichtung erstens enger als sein Titel verspricht und behandelt zudem nur das spätere Mittelalter und transportiert damit unterschwellig die kaum mehr haltbare Ansicht weiter, dass alles Neue erst im 12. Jahrhundert begonnen habe. Das Frühmittelalter bleibt damit (implizit) ein dunkles Zeitalter. Zweitens ist "The New" so neu nicht, wie es behauptet. Es ist ebenso bezeichnend wie ärgerlich, dass im Literaturverzeichnis, mit Ausnahme eines deutschen Werkes von 1926, wieder einmal nur englischsprachige Titel aufgeführt sind und alles andere nicht existiert. Auch eine solche Haltung ist keineswegs neu, dürfte im Zeitalter der Globalisierung jedoch hoffnungslos antiquiert sein. Auf diese Weise lässt sich freilich längst Bekanntes ungeniert als Neuentdeckung verkaufen. Ob die von Ingham festgestellten Neuerungen in der Dichtung zutreffend sind, müssen Literaturwissenschaftler beurteilen. Drittens zeigt die wortreiche Studie doch nirgends konkret an den Texten auf, wie genau das Neue aus der Tradition herauswächst oder wie sich die Ambivalenz erklären ließe. Vermutlich ist aber auch die hier vorgebrachte Kritik unberechtigt, denn der unbedarfte Rezensent muss sich eingestehen, dass er auch nach zweimaliger Lektüre nicht verstanden hat, worum es der Autorin letztlich geht.
Hans-Werner Goetz