Marion Baschin: Ärztliche Praxis im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Der Homöopath Dr. Friedrich Paul von Bönninghausen (1828-1910) (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung; Beiheft 52), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014, 318 S., 5 Abb., ISBN 978-3-515-10782-2, EUR 54,00
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Wie gestaltete sich der Alltag eines Arztes im ausgehenden 19. Jahrhundert? Durch welche Faktoren war dieser bestimmt? Dieser Band befasst sich mit zentralen Themen der ärztlichen Tätigkeit des Arztes Friedrich von Bönninghausen (1828-1910). Neben den "Wissensbeständen", unter denen die der Praxis zugrundeliegenden Erklärungsmodelle und Theorien behandelt wurden, werden "die Patientinnen" sozialstatistisch analysiert, um Erkenntnisse über die Klientel der Arztpraxen zu gewinnen. Hierbei wird auch die Inanspruchnahme verschiedener therapeutischer Hilfen betrachtet. Ein weiteres Interesse richtet sich auf den "Praxisalltag" mit sämtlichen Aspekten der administrativen, kommunikativen und therapeutischen Gestaltung ärztlichen Handelns. Die Autorin, Marion Baschin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart. Die vorliegende sozialgeschichtliche Untersuchung entstand im Rahmen des DFG-Projekts "Ärztliche Praxis im 19. Jahrhundert".
Friedrich von Bönninghausen praktizierte zwischen 1864 und 1910 als Homöopath in Münster in Westfalen. Als Homöopath unterschied sich sein Konzept von der zeitgenössischen wie der heutigen "Schulmedizin". Von Bönninghausen hatte die Praxis seines Vaters übernommen und führte nach dessen Vorbild Krankenjournale. Mit der qualitativen und quantitativen Auswertung einer repräsentativen Auswahl der Journale rekonstruiert die Autorin die alltägliche Praxis des homöopathischen Arztes. Die Krankenjournale dienen als Hauptquelle der Untersuchung. Sie enthalten Angaben zur Person der Patienten, Krankheitsbild und -vorgeschichte sowie Therapie. Krankenakten bieten oft den einzigen Zugang zum Alltag einer Praxis und stellen diesen für den dokumentierten Zeitabschnitt dar. Da "externe" Faktoren ebenfalls einflussreich sind, hat Baschin weitere Quellen verwendet: Adressbücher, lokale Zeitungen sowie das königliche Amtsblatt. Es werden die theoretischen Grundlagen der Journalführung dargestellt. Anhand dieser Quellen untersucht die Verfasserin den Wissensbestand der Praxis und bestimmt von Bönninghausens Position innerhalb der Homöopathie.
In zwei Kapiteln betrachtet Baschin das städtische Umfeld der Praxis sowie die medizinische Infrastruktur aus verschiedenen Perspektiven. Als Vertreter der Ärzteschaft mit dem Alleinstellungsmerkmal des homöopathischen Therapieangebots nahm von Bönninghausen eine gewisse Außenseiterrolle im "medizinischen Markt" in Münster ein. Die Autorin bemerkt eine "wesentliche Rolle" der "räumlichen Umgebung (einer) Praxis und (der) dort vorherrschenden soziale(n) Struktur" (108). Sie erkennt im Raum Münster einen "verhältnismäßig 'innovative(n), medizinische(n) Markt', der auf eine verhältnismäßig wohlhabende Klientel ausgerichtet war." (226) Daneben nähert sich die Verfasserin der Thematik aus der Sicht der Kranken. Es wird untersucht, ob und in welcher Form Heilversuche dem Besuch der Praxis Bönninghausens vorangingen. Auch auf Motive und Verhalten der Patienten im "medizinischen Markt" wird eingegangen.
Ein Kapitel widmet sich der Patientenschaft hinsichtlich ihrer sozialstrukturellen Merkmale wie Geschlecht, Familienstand, Alter, Schichtzugehörigkeit und Wohnort. Im Vergleich der Zusammensetzung der Patientengruppe mit der Klientel anderer Arztpraxen wird festgestellt ob sich die Patienten von Bönninghausens hinsichtlich bestimmter sozialer Merkmale abheben. Im folgenden Abschnitt wird das Krankheitsspektrum beschrieben, das aus den Journalen rekonstruierbar war. Dabei differenziert die Autorin geschilderte Beschwerden nach Geschlecht, Alter und sozialer Herkunft. Obwohl als Geburtshelfer und Wundarzt ausgebildet, sind keine chirurgischen Eingriffe durch von Bönninghausen belegt. Diese beiden Tätigkeitsfelder werden für die alltägliche Praxis als kaum relevant eingestuft (166).
Im zentralen Kapitel befasst sich die Autorin mit dem "Praxisalltag". Es wird verfolgt, in welcher Frequenz die Praxis besucht wurde, wie sich die Begegnung von Arzt und Patient gestaltete und wie eine Behandlung in der Regel verlief. In der Betrachtung der Arzt-Patienten-Beziehung zieht Baschin häufig Vergleiche zu entsprechenden Untersuchungen, wie etwa die zu Samuel Hahnemann von Robert Jütte. Die Autorin ermittelt aus den vorliegenden Quellen, dass von Bönninghausen sich ausreichend Zeit für seine Patienten nehmen konnte und durchaus auch Hausbesuche durchführte. In der Betrachtung der Verschreibungspraxis stellt Baschin fest, dass der Arzt nicht die gesamte Bandbreite vorhandener Mittel ausschöpfte, sondern insbesondere "Belladonna, Pulsatilla oder Nux Vomica in Hochpotenzen" (227) verschrieb. Neben den Aspekten der "administrativen, kommunikativen und therapeutischen Gestaltung der ärztlichen Tätigkeit" (167) wird die Frage nach dem Einkommen des Arztes thematisiert. Dessen Honorarforderungen bewegten sich im Rahmen der preußischen Taxe für die Gebühren der approbierten Ärzte (221).
In einem abschließenden Kapitel werden die untersuchten Faktoren zusammengefasst und aufgezeigt, wie die Ergebnisse der exemplarischen Praxis-Analyse Impulse zur Erforschung der 'ärztlichen Praxis' geben können. Dem Textteil schließt sich ein umfangreicher Anhang an mit Tabellenmaterial und Zahlenangaben, auf deren Basis die erstellten Schaubilder beruhen. Weiter findet der interessierte Leser Informationen in einem Quellen-, Literatur- und Personenindex. Betrachtet Baschin die Symptome der Kranken als Anlass, ärztliche Hilfe zu beanspruchen, so wertet sie deren Rolle gleichzeitig für den Arzt als Schlüssel für seine Behandlung und Grundlage seines Einkommens (228). Auch wenn von Bönninghausen die Journale nicht für die Öffentlichkeit oder für Publikationen angelegt hat, tragen die aus ihnen gewonnenen Informationen dazu bei, den "'Alltag' einer wohl weitgehend, 'durchschnittlichen' homöopathischen Arztpraxis im ausgehenden 19. Jahrhundert" (228) zu rekonstruieren. Gleichzeitig stellt die Autorin 'blinde' Flecken fest, beispielsweise hinsichtlich der Motivationen und Überlegungen von Bönninghausens oder zu Fragen wie Sprechzeiten und genauem Einkommen des Homöopathen. Diese Lücken seien den Grenzen der Quellen geschuldet. Die Praxis ordnet Baschin als eine "relativ kleine, weitgehend unbedeutende Privatpraxis in [...] Westfalen ein" (229), die geprägt ist von der Person des Arztes und dessen Kenntnisstand, der Patientenschaft und deren Beschwerden sowie dem lokalen und regionalen Umfeld.
Marion Baschins Studie trägt insgesamt bei zu einer verbesserten Kenntnis zur Rolle 'der' Arztpraxen in der Vergangenheit. Neben der Persönlichkeit und den Kenntnissen des Arztes werden dessen Klientel, die dort behandelten Krankheiten und Aspekte der ärztlichen Tätigkeit betrachtet. Die hier präsentierten Ergebnisse zu dieser homöopathischen Praxis laden die Leserschaft dazu ein, Routinen zu überdenken und die Beziehung zwischen Arzt und Patient zu hinterfragen. Damit lässt sich der vorliegende Band als ein 'Baustein' in der Geschichte der ärztlichen Praxis verstehen. Baschins Monografie zeichnet das Bild des 'Alltags' der ärztlichen Praxis, der dem anderer Ärzte ähnlicher ist, als sich vermuten ließ. Dieser unterlag in den Jahren nach dem Tod von Bönninghausen einem starken Wandel. Damit ist der Autorin nur beizupflichten, dass weitere, entsprechende Untersuchungen insbesondere für die ärztliche Praxis im 20. Jahrhundert dringend notwendig sind.
Felicitas Söhner