Else Krell: Wir rannten um unser Leben. Illegalität und Flucht aus Berlin 1943. Herausgegeben von Claudia Schoppmann (= Publikationen der Gedenkstätte Stille Helden; Bd. 5), Berlin: Metropol 2015, 229 S., 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-86331-238-1, EUR 19,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Alexandra Klei / Katrin Stoll (Hgg.): Leerstelle(n)? Der deutsche Vernichtungskrieg 1941-1944 und die Vergegenwärtigungen des Geschehens nach 1989, Berlin: Neofelis Verlag 2019
Timothy Snyder: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. Aus dem Englischen von Ulla Höber, Karl Heinz Siber und Andreas Wirthensohn , München: C.H.Beck 2015
Andrejs Plakans: The Reluctant Exiles. Latvians in the West after World War II, Leiden / Boston: Brill 2021
Kerstin Schwenke: Öffentlichkeit und Inszenierung. Besuche in nationalsozialistischen Konzentrationslagern zwischen 1933 und 1945, Berlin: Metropol 2021
Christophe Busch / Stefan Hördler / Robert Jan van Pelt (Hgg.): Das Höcker-Album. Auschwitz durch die Linse der SS, Mainz: Philipp von Zabern 2016
"Der Schmerz wird geringer, so als ob man einen großen Stein in einen Teich wirft; während er sinkt, werden die Ringe an der Oberfläche kleiner und kleiner." (185) Mit diesen Sätzen enden die Erinnerungen von Else Krell, die Anfang 1943 in Berlin vor den Deportationen in die Vernichtung flüchtete. Else Krell lebte zusammen mit ihrer Tochter Margot mehrere Monate untergetaucht in Berlin, bevor den beiden Frauen schließlich im Herbst 1943 die Flucht über die Schweizer Grenze gelang. Sie waren unter den wenigen, geschätzt maximal 5.000 deutschen Juden, die sich erfolgreich den Deportationen entzogen. [1] Else Krell hatte zwar die Verfolgung überlebt, aber ihre Gesundheit, ihre Familie, ihr Leben waren zerstört.
Das Manuskript von Else Krell, das etwa 1960 entstand, ist nun, herausgegeben von Claudia Schoppmann, in der Reihe Publikationen der Gedenkstätte Stille Helden erschienen. Die Herausgeberin hat den Text kompetent mit Annotationen versehen und auch um eine Einführung sowie um ein Schlusskapitel über das Helfernetzwerk von Else Krell bereichert. Über dieses Netzwerk - die Gruppe um Louise Meier und Josef Höfler, die neben Else Krell und ihrer Tochter fast 30 Personen in die Schweiz brachte - ist bereits viel geschrieben worden. Trotzdem gewinnt der Band durch die kontextuale Ergänzung, da gerade mit der Thematik weniger vertrauten Lesern eine breitere Einordnung der von Krell dargestellten Ereignisse ermöglicht wird. Else Krells Tochter, Margot Linczyc, steuerte einige Dokumente sowie ein Nachwort bei, in dem sie vor allem ihre Erfahrungen nach der erfolgreichen Flucht und der Auswanderung nach Großbritannien reflektiert.
Else Krell beschreibt ihre Lebensgeschichte in sieben Kapiteln, beginnend mit ihrer Hochzeit mit dem Kaufmann Adolf Murzynski 1920 und der Geburt von Sohn Walter (1922) und Tochter Margot (1927). Nach dem Verlust seines Geschäftes 1936 zog Adolf Murzynski auf der Suche nach Arbeit von Weiden nach Berlin. Seine Frau und die Kinder kamen außerhalb Berlins bei Verwandten unter. Else Krell berichtet freimütig, wie der wachsende Verfolgungsdruck ihre Ehe belastete, wie räumliche Distanz zu Entfremdung zwischen den Ehepartnern wurde, Streit um Geld und den Umgang mit den immer widrigeren Lebensbedingungen die Beziehung zerstörte. 1939 emigrierte Adolf Murzynski ohne seine Familie nach Großbritannien. Else Krell gelang es noch, ihren Sohn Walter nachzuschicken, aber Mutter und Tochter blieben in Berlin zurück.
Die Freundschaft mit einem Angestellten der Wohnungsberatungsstelle der Jüdischen Gemeinde bewahrte Else Krell vor den ersten Deportationen im Herbst 1941. Im Sommer 1942 konnte sie ihrer Deportation dadurch entgehen, dass sie sich von einem befreundeten Arzt eine Injektion geben ließ, die hohes Fieber und eine thromboseähnliche Schwellung an einem Bein verursachte. Das bewusste Herbeiführen einer Krankheit oder Krankheitssymptomen war eine Notmaßnahme, mit der auch andere Juden ihre Deportation abzuwenden versuchten. Ende Januar 1943 begann das Leben unter falscher Identität in der Illegalität. Else Krell skizziert verschiedene Helfer: Menschen, die aus Mitgefühl handelten, gute Freunde, die sie aus der Ferne unterstützten, arme Menschen, die eine Chance sahen, etwas dazu zu verdienen, Menschen, die kleine Gesten der Solidarität zeigten sowie unwissende Helfer, die glaubten, eine ausgebombte Kölnerin und ihre Tochter zu beherbergen und sich als rabiate Antisemiten entpuppten. Im Oktober 1943 knüpfte Else Krell Kontakt zu Louise Meier, deren Netzwerk Krell und ihre Tochter schließlich gegen Bezahlung über die Grenze in die Schweiz brachte.
Else Krells Erfahrungsbericht ist der jüngste in einer Reihe von Memoiren von Juden und Jüdinnen, die im Versteck den Holocaust überlebten. [2] Der chronologisch aufgebaute Text enthält kleinere Unsicherheiten: Im dritten Kapitel springt die Erzählung zeitlich immer wieder vor und zurück, was eine genaue Datierung der Ereignisse manchmal schwierig erscheinen lässt. Insgesamt besticht das Manuskript jedoch nicht nur durch einen flüssigen, gut lesbaren Schreibstil, sondern vor allem dadurch, dass Facetten der Verfolgung und des Lebens im Versteck zur Sprache kommen, über die man eher selten etwas lesen kann.
Das zweite Kapitel behandelt ihre Situation und die ihrer jüdischen Freunde in der Zeit zwischen Kriegsanfang 1939 und dem Ausreiseverbot für Juden im Oktober 1941. Else Krell schildert die letzten, verzweifelten Versuche, eine Ausreise zu organisieren, die langen Schlangen vor den ausländischen Konsulaten, den Blick auf die wenigen Glücklichen, die Berlin noch verlassen konnten, und den Lebenswillen der Zurückgebliebenen, die spürten, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Sie betäubten ihre Verzweiflung mit Alkohol, feierten wilde Parties, stürzten sich in letzte Liebschaften. Else Krell beschreibt, wie der Eskapismus ein notwendiges Ventil wurde, um mit der immer erdrückenderen Situation fertig zu werden. In einem späteren Kapitel spricht sie auch Konflikte unter flüchtigen Juden an: da in ihrem Umfeld für eine wachsende Zahl von untergetauchten Personen nur wenige Schlafplätze zur Verfügung standen, schottete sie sich und ihre Kontakte teilweise auch gegen neugierige Fragen anderer Flüchtiger ab.
Am wichtigsten für unser Verständnis der Situation der im Versteck lebenden Juden sind jedoch Else Krells zahllose Begegnungen mit Erpressern, Dieben und Schwindlern. Die Geschichte der untergetauchten Juden ist bisher hauptsächlich als eine Geschichte der Flüchtenden und ihrer Helfer, der "stillen Helden" wahrgenommen worden. Flucht und Rettungsversuche waren jedoch komplexe soziale Prozesse, die im breiteren Kontext der Ausplünderung und Deportation der deutschen Juden zu sehen sind. Wenn man die Interaktionen zwischen Juden und Nichtjuden genauer betrachtet, sieht man eine Vielzahl unterschiedlicher Verhaltensweisen und Ambivalenzen, darunter auch, wie Else Krell belegt, die weit verbreitete Bereicherung an den Flüchtigen. Else Krell traf Menschen, die Schutzgeld von ihr erpressten, ihr Hab und Gut verkauften und sie um den Erlös betrogen oder sich geringe Hilfe sehr teuer bezahlen ließen. Sie musste immer auf der Hut vor Betrügern sein. Dazu kam, dass nicht wenige Männer wie selbstverständlich davon ausgingen, dass ihre Hilfe mit sexuellen Dienstleistungen "bezahlt" werden würde.
Else Krells Memoiren ist ein breiter Leserkreis zu wünschen, denn es gelingt der Autorin nüchtern, ein komplexes Bild ihrer Situation zu zeichnen, das viele Grauzonen ausleuchtet. Sie zeigen auch, dass nach der gelungenen Flucht ihr Leben nicht wieder in normale Bahnen gelenkt wurde. Über die langfristigen Folgen der Verfolgung bei den versteckt Überlebenden ist in der wissenschaftlichen Forschung noch wenig geschrieben worden. Viele Memoiren enden 1945. Else Krell belässt es bei wenigen, aber eindringlichen Sätzen. "1955 zog ich wieder in die Schweiz," schreibt sie "wo ich vereinsamt, ohne meine Familie und allein, nur mit meinen Gedanken, den letzten Abschnitt meines Lebens verbringe." (185) Claudia Schoppmann ist es zu verdanken, dass dieses Manuskript - leicht redigiert und mit großem Sachverstand annotiert und kommentiert - nun als Buch vorliegt.
Anmerkung:
[1] Zahlenangabe nach Marnix Croes / Beate Kosmala: "Facing Deportation in Germany and the Netherlands: Survival in Hiding", in: Beate Kosmala / Georgi Verbeeck (eds.): Facing the Catastrophe: Jews and Non-Jews in Europe During World War II, Oxford 2011, 97.
[2] Zuletzt erschienen unter anderem: Zvi Aviram: Mit dem Mut der Verzweiflung. Mein Widerstand im Berliner Untergrund 1943-1945, herausgegeben von Beate Kosmala und Patrick Siegele, Berlin 2015; Marie Jalowicz Simon: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945, Frankfurt 2014; Margot Friedlander mit Malin Schwerdtfeger: "Versuche dein Leben zu machen." Als Jüdin versteckt in Berlin, Hamburg 2010; Bert Lewyn / Bev Saltzmann Lewyn: Versteckt in Berlin. Eine Geschichte von Flucht und Verfolgung 1942-1945, Berlin 2009.
Susanna Schrafstetter