Nina Reusch: Populäre Geschichte im Kaiserreich. Familienzeitschriften als Akteure der deutschen Geschichtskultur 1890-1913, Bielefeld: transcript 2015, 400 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-3182-1, EUR 34,99
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Holger Berwinkel / Martin Kröger (Red.): Die Außenpolitik der deutschen Länder im Kaiserreich. Geschichte, Akteure und archivische Überlieferung (1871-1918). Beiträge des wissenschaftliches Kolloquiums zum 90. Gründungstag des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes am 3. August 2010, München: Oldenbourg 2012
Andreas Weiß: Asiaten in Europa. Begegnungen zwischen Asiaten und Europäern 1880-1914, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016
"Die Gartenlaube" (1853-1937), die populärste Familienzeitschrift ihrer Zeit, kennt ein jeder Historiker. Weniger bekannt sind die vielen anderen, von denen die Verfasserin mit Bedacht drei weitere aussucht, welche obendrein - anders als "Die Gartenlaube" - bislang nur sehr wenig im Fokus der Forschung gestanden haben: "Daheim" (1864-1944), "Alte und Neue Welt" (1867-1945) und "Neue Welt" (1876-1886, 1892-1919). Mit Bedacht, weil die vier ausgewählten Zeitschriften für unterschiedliche gesellschaftliche Milieus stehen: "Die Gartenlaube" für das ursprünglich nationalliberale, dann konservative, "Daheim" für das protestantisch-konservative, "Alte und Neue Welt" für das katholische und "Neue Welt" für das sozialdemokratische. Diese Familienzeitschriften wurden vor allem viel gelesen. So geben sie Einblicke in die Lesebedürfnisse ihres jeweiligen Publikums, wie sie es auch umgekehrt prägten. Sie sind in der Tat "Medien und Akteure der Geschichtskultur" (339).
Aus der Fülle der Artikel wählt die Verfasserin nur diejenigen mit - wie auch immer gefassten - geschichtlichen Inhalten aus und kommt zu überzeugenden Ergebnissen. Das Wichtigste: DIE "Geschichtskultur" gibt es nicht. Es gibt stattdessen unterschiedliche, milieuspezifische "Geschichtskulturen". Beweis: Eben die so populären und auflagenstarken Familienzeitschriften, die je nach Milieu ganz unterschiedlich ausgerichtet sind. "Resümee" der Verfasserin: "Die Geschichtskulturlandschaft des Wilhelminischen Kaiserreichs war ein weit gespanntes Netzwerk unterschiedlichster Erinnerungsgemeinschaften und Institutionen, die Anknüpfungspunkte teilten, sich gegeneinander abgrenzten und in Bezug auf die Vergangenheit verschiedenste Zugänge und Deutungen pflegten." (339) Die Freiburger Dissertation ist für alle, die sich in Zukunft mit Geschichtskultur befassen, ein unverzichtbarer Gegenstand der Lektüre. Weil Geschichtskultur gegenwärtig ein zentraler Begriff der Geschichtswissenschaften sowie der Geschichtsdidaktik geworden ist, wird die Dissertation von Reusch auf große Teile der bisherigen Forschung zur Geschichtskultur ausstrahlen, nicht nur auf das Kaiserreich begrenzt. Die Fragestellung von Reusch (und auch die Methode - davon später) ist auf andere Zeitabschnitte erweiterbar und wird Folgeuntersuchungen zeitigen. Dies ist jedenfalls zu wünschen.
Daneben gibt es noch eine Reihe anderer, durchaus wichtiger Ergebnisse: Reusch bereichert den Wissensstand beträchtlich: Einmal über die Familienzeitschriften als solche, insbesondere über die weithin unbekannten, die gleichwohl in ihrer Zeit wichtig waren, und dann auch über die Autoren der Artikel. Nur wenige sind aus der Universität. Also schon damals das Spannungsverhältnis zwischen denen, die forschen, und denen, welche die Geschichte unters Volk bringen! Über 60 Autoren aus den unterschiedlichsten Facetten der Gesellschaft sind allein im kommentierten "Verzeichnis der Autorinnen und Autoren historischer Artikel in Familienzeitschriften" aufgenommen.
Ein weiteres Ergebnis lässt aufhorchen: Die Artikel mit historischem Inhalt popularisieren zwar zu einem Gutteil Ergebnisse der damaligen Geschichtsforschung, aber sie gehen über sie hinaus. Das liegt daran, dass sie Alltagskultur, kultur- und sozialgeschichtliche Themen behandeln, also sehr oft Themen, die erst viel später (vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) in den Fokus der Geschichtswissenschaft geraten sind. Damit wird diese Dissertation unvermutet auch zu einem Beitrag über die Wissenschaftsgeschichte der Geschichtswissenschaft.
Wie die Verfasserin zu den Ergebnissen kommt, darüber gibt sie im Kapitel "Die Methode: Quantitative und qualitative Inhaltsanalyse Auskunft" (28). Sie erfasst in den Familienzeitschriften vollständig alle Artikel mit historischem Inhalt, was angesichts der langen Erscheinungsdauer der Familienzeitschriften eine immense Arbeit bedeutet hat. Die eingehender besprochenen Artikel, deren Zahl notwendigerweise immer nur begrenzt ist, können dann vor dem Hintergrund einer Totalerfassung als repräsentativ angesehen werden. Die Artikel werden nach Themen, Epochen, Formen, ethnokultureller und räumlicher Zugehörigkeit, Klasse, Stand, Geschlecht, Konfession und Religion (alles Teilüberschriften der Gliederung) analysiert, also insgesamt unter Anlegung erstaunlich vieler Untersuchungsparameter.
Die Arbeit ist eine Dissertation, eine sehr sorgfältig angelegte Dissertation, welche in der Einleitung einen genauen Überblick über den Forschungsstand zu Familienzeitschriften und zur Geschichtskultur gibt. Sie weist wie alle sorgfältigen Dissertationen eine genaue Verortung der Ergebnisse in den Forschungsstand auf und ist überdies klar und ohne Redundanzen gegliedert. Kapitelresümees und ein abschließendes Gesamt-Resümee erleichtern den Zugang. Allerdings findet sich hier bei der Zugänglichkeit ein Fauxpas: Weder im Titel, noch im Klappentext und nicht einmal in der Gliederung werden die so gründlich behandelten Familienzeitschriften mit Titel genannt, nicht einmal "Die Gartenlaube". Man muss schon weiter lesen, um erfahren zu können, worum es konkret geht.
Fazit: Die Dissertation ist gleich mehrfach eine Bereicherung für die Forschung. Reusch differenziert mit ihrer sorgfältig recherchierten und auch methodisch überzeugenden Dissertation wegweisend für viele nachfolgende Untersuchungen den Begriff "Geschichtskultur" milieuspezifisch in "Geschichtskulturen", indem sie alle Artikel mit historischem Inhalt viel gelesener Familienzeitschriften aus der Zeit des Kaiserreiches untersucht. Damit ist die Arbeit ein "Muss" für zukünftige Untersuchungen zur Geschichtskultur, aber gleichermaßen auch ein "Muss" für die Erforschung von Familienzeitschriften. Beides nicht nur für die Zeit des Kaiserreiches. Mögen viele Anschlussarbeiten folgen!
Manfred Hanisch