Kim Wünschmann: Before Auschwitz. Jewish Prisoners in the Prewar Concentration Camps, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2015, 376 S., 1 Kt., 19 s/w-Abb., ISBN 978-0-674-96759-5, USD 45,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Frank Beer / Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hgg.): Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944-1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, Berlin: Metropol 2014
Yehuda Bauer: Der Tod des Schtetls, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2013
Frits Boterman: Duitse Daders. De jodenvervolging en de nazificatie van Nederland (1940 - 1945), Amsterdam: Uitg. De Arbeiderspers 2015
Alexandra Garbarini: Numbered Days. Diaries and the Holocaust, New Haven / London: Yale University Press 2006
Jean Ancel: Prelude to Mass Murder. The pogrom in Iaşi, Romania, June 29, 1941 and Thereafter, Jerusalem: Yad Vashem 2013
Lorenz Pfeiffer / Henry Wahlig: Juden im Sport während des Nationalsozialismus. Ein historisches Handbuch für Niedersachsen und Bremen, Göttingen: Wallstein 2012
Charmian Brinson / Marian Malet (Hgg.): "Warum schweigt die Welt?"- Die Entführung von Berthold Jacob. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2014
Wolfgang Form / Theo Schiller / Lothar Seitz (Hgg.): NS-Justiz in Hessen. Verfolgung, Kontinuitäten, Erbe, Marburg: Historische Kommission für Hessen 2015
Seit einigen Jahren ist die Geschichte von jüdischen Konzentrationslager-Häftlingen eine zunehmend und zu Recht mehr Beachtung findende Facette der deutschen und internationalen Forschung zum Nationalsozialismus. Es geht um die vor den Massenmorden im Zweiten Weltkrieg stattgefundenen Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung in Europa. In der Endphase befinden sich die Dissertationen von Karoline Georg fokussiert auf das Berliner Konzentrationslager Columbia und von Julia Pietsch über KZ-Häftlinge in Berlin und Brandenburg. [1] Hingewiesen sei noch auf die (teilweise nicht veröffentlichten) Studien von Anna Hájková, Irmgard Seidel, Günter Morsch/Susanne zur Nieden, Linde Apel, Marco Esseling, Harry Stein und Detlef Garbe/Sabine Homann. [2] Vor allem hat die derzeit in England arbeitende Historikerin Kim Wünschmann die Geschichte von jüdischen Häftlingen in Konzentrationslagern untersucht [3]. Sie ist am Birkbeck College (University of London) an einem von Nikolaus Wachmann geleiteten Forschungsprojekt über NS-Konzentrationslager in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg beteiligt gewesen und hat in diesem Zusammenhang ihre - gleichfalls von Wachsmann "supervised" (348) - Dissertation erarbeitet.
Wünschmann hat auf einer umfassenden Quellengrundlage - in der Bibliographie werden über dreißig Archive in Deutschland, Jerusalem, London und den USA aufgelistet - und der Auswertung internationaler Quellen- und Forschungspublikationen - so viel kann schon gesagt werden - das Standardwerk über jüdische Häftlinge in den deutschen Konzentrationslagern zwischen 1933 und 1939 verfasst.
Gleich zu Beginn stellt sie in der fundierten Einführung heraus: "The concentration camps of the prewar era were different from the wartime camps." (3) Sie erarbeitet ihr Thema chronologisch in sechs Schritten und konzentriert sich auf die Konzentrationslager Dachau, Breitenau, Osthofen, Lichtenburg, Sonnenburg, Sachsenhausen, Buchenwald und die Emslandlager. Sie geht auch auf andere KZ ein, wie z.B. das zwischen 1933 und 1936 in Berlin vorhandene Gefängnis des Geheimen Staatspolizeiamtes bzw. KZ Columbia. Ihre Ausführungen werden von zahlreichen biografischen Beispielen von prominenten und unbekannten jüdischen Männern - und im dritten Kapitel jüdischen Frauen - begleitet, die das Verständnis des Beschriebenen erleichtern.
Sie betont die Bedeutung von Gewalt seit Beginn der Verfolgung der jüdischen Minderheitsbevölkerung im Allgemeinen und gegenüber den in den frühen Konzentrationslagern inhaftierten Juden und Jüdinnen im Besonderen. Ihre Untersuchung startet mit dem Instrument der Schutzhaft gegen "radical political activists and then turn to left-wing politicians and political journalists". Weiterhin fragt die Historikerin nach der Verfolgung jüdischer Juristen, Landjuden und "ordinary Jews" (21).
Im zweiten Kapitel wird das Geschehen in den Lagern 1933-34 untersucht und mit zahlreichen Beispielen von Misshandlung, Isolierung und Ermordung illustriert. Sie erinnert an die Separierung jüdischer Männer in den KZ Oranienburg und Dachau und interpretiert die Morde als "Vorbereitung" der SS-Männer - sie sollten "hart wie Kruppstahl" werden - für die späteren Verbrechen. Trotz des Terrors hat es Selbstbehauptungsbemühungen und Widerstand gegeben, dessen spektakulärste Form wenige Fluchten waren. Der aus Oranienburg geflohene Gerhart Seeger z.B. hat seine Erlebnisse 1934 in der Tschechoslowakei veröffentlicht.
Das dritte Kapitel ist den weiblichen jüdischen Konzentrationslagerhäftlingen der Jahre 1933 bis 1939 gewidmet. Nach Beispielen von widerständigen Jüdinnen, die häufig eher in Polizeigefängnissen ihrer Freiheit beraubt gewesen waren, geht sie zunächst auf das Frauen-KZ Moringen sowie auf als "Rassenschänderinnen" Verfolgte und Rückwanderinnen ein, die in Schulungshaft genommen wurden. Mit dem letztgenannten Procedere sollten die Frauen zur endgültigen Auswanderung gezwungen werden. Anschließend stellt Wünschmann dar, wie das antijüdische Feindbild sich 1935-38 zunehmend verstetigte. Das jüdische Individuum verschwand hinter dem Feindbild "des Juden", der streng von nichtjüdischen Häftlingen separiert wurde. Dieser Trend setzte sich fort, wie sie im folgenden Kapitel zur antijüdischen Politik 1938, der massenhaften Verfolgung und der Bedeutung der Konzentrationslager im Jahr der Novemberpogrome aufzeigt. Es kommt zur - später perfektionierten - öffentlichen Kennzeichnung mit noch unterschiedlichen Zeichen: In Sachsenburg z.B. durch den gelben Stern oder in Lichtenburg mittels gelber Binden am Hosenbein und Streifen auf dem Rücken der Häftlingsjacken. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen zeigte sich auch an den höheren Todesraten der jüdischen Häftlinge. Sie thematisiert auch Konflikte in dieser Gefangenenkategorie.
Abschließend fragt sie: "Calm after the Storm?" im letzten Jahr vor dem Krieg. Diese Ruhe hat es bekanntlich nicht gegeben. Stattdessen hat die Verfolgung zugenommen und die jüdische Bevölkerung ist zunehmend ausgebeutet worden. "Jews were thus forced to finance their own expulsion." (212) Die ersten tschechischen Juden gelangten im September 1939 in das KZ Buchenwald, polnische und staatenlose Juden nach Sachsenhausen und ebenfalls nach Buchenwald. Deutsche Juden und Jüdinnen galten nun nicht mehr als Deutsche, sondern nur noch als Juden und rechtlos.
Dementsprechend wird in der Zusammenfassung darauf eingegangen, wie die Konzentrationslager als Verfolgungsinstrument geholfen hatten, "to transform German Jews from a heterogeneous minority group within society to outsiders perceived as a homogeneous group of enemies to be excluded from German communal life." (233 f.) Der Ausschluss aus der "Volksgemeinschaft" diente als Test, wie die Mehrheitsbevölkerung in Zukunft reagieren würde.
Kim Wünschmann hat mit ihrer Studie zur Verfolgung der jüdischen Bevölkerung und deren Verschleppung in Konzentrationslager einen wichtigen Beitrag zu einem bisher zu wenig beachteten Thema vorgelegt. Damit hat sie das Augenmerk auf die jüdischen Häftlinge in den frühen deutschen Konzentrationslagern gelenkt, die bisher im Schatten der massenhaften Ermordung in außerhalb Deutschlands gelegenen Konzentrationslager gestanden haben. Sie hat beschrieben und nachgewiesen: Es hat eine eigenständige Phase "Before Auschwitz" gegeben.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die Vorabveröffentlichungen von Karoline Georg: Manifestation der Ausgrenzung. Das Konzentrationslager Columbia als Instrument der Judenverfolgung in Berlin; Julia Pietsch: Stigmatisierung von Juden in frühen Konzentrationslagern. Die Häftlinge der 'Judenkompanie' des Konzentrationslagers Oranienburg 1933/34, beides in: Marco Brenneisen / Christine Eckel / Laura Haendel / Julia Pietsch (Hgg.): Stigmatisierung - Marginalisierung - Verfolgung, Berlin 2015.
[2] Anna Hájková: Prisoner society in the Terezίn ghetto, 1941-1945, University of Toronto 2013; Irmgard Seidel: Jüdische Frauen in den Außenkommandos des Konzentrationslagers Buchenwald, in: Gisela Bock (Hg.): Genozid und Geschlecht. Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem, Frankfurt am Main 2005; Günter Morsch / Susanne zur Nieden (Hgg.): Jüdische Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen 1936 bis 1945, Berlin 2004; Linde Apel: Jüdische Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945, Berlin 2003; Marco Esseling: Juden als Häftlingsgruppe in Konzentrationslagern. Verhaftung von Juden und ihre Stellung im Lager bis 1942 unter besonderer Berücksichtigung des KZ Dachau, Ludwig-Maximilians-Universität München 1995; Harry Stein: Juden in Buchenwald 1937-1942, Weimar 1992; Detlef Garbe / Sabine Homann: Jüdische Gefangene in Hamburger Konzentrationslagern, in: Arno Herzig (Hg.): Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990, Hamburg 1991.
[3] Vgl. u.a.: Die Konzentrationslagererfahrungen deutsch-jüdischer Männer nach dem Novemberpogrom 1938. Geschlechtergeschichtliche Überlegungen zu männlichem Selbstverständnis und Rollenbild, in: Susanne Heim / Beate Meyer / Francis Nikosia (Hgg.): "Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht sein Leben". Deutsche Juden 1938-1941, Göttingen 2010; Jüdische politische Häftlinge im frühen KZ Dachau. Widerstand, Verfolgung und antisemitisches Feindbild, in: Nikolaus Wachsmann / Sybille Steinbacher (Hgg.): Die Linke im Visier. Zur Errichtung der Konzentrationslager 1933, Göttingen 2014.
Kurt Schilde