Kyle Harper: The Fate of Rome. Climate, Disease, and the End of an Empire (= The Princeton History of the Ancient World), Princeton / Oxford: Princeton University Press 2017, XVI + 417 S., 26 Kt., 16 Tbl., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-0-691-16683-4, USD 35,00
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Der Untergang des Römischen Reiches ist über die Jahrhunderte hin immer wieder neu gedeutet und erklärt worden. Dem bunten Angebot an Ansätzen - Alexander Demandt hat bekanntlich deren mehr als 200 zusammengetragen - hat Kyle Harper nun eine weitere Facette hinzugefügt: Indem er erstmals die Summe aus umweltgeschichtlichen Forschungen zieht, die aufgrund rasanter Fortschritte in naturwissenschaftlichen Methoden (u.a. Eisbohrkernforschung, Gletscheranalysen, Dendrochronologie, Paläogenetik, Knochenuntersuchungen, Isotopenanalysen, Paläomikrobiologie, Paläoklimaforschung) und einem wachsenden Interesse von Naturwissenschaftlern an historischen Fragestellungen in den letzten Jahren möglich geworden sind, kann er nun ein neues Narrativ für das Ende der römischen Welt vorlegen, das konsequent umwelthistorisch verankert ist ("the triumph of nature over human ambitions", 4), in die dadurch vorgegebenen Koordinaten jedoch auch politik- und kulturgeschichtliche Aspekte zu integrieren vermag. Grob gefasst lautet die von ihm präsentierte neue Erzählung folgendermaßen: Der Aufstieg der italischen Ansiedlung Rom zur Weltmacht wurde entscheidend durch klimatische Bedingungen begünstigt, die zwischen etwa 200 v.Chr. und 150 n.Chr. ein warmes, feuchtes, vor allem aber stabiles Klima im Mittelmeerraum garantierten (Roman Climate Optimum), das die Basis für einen kontinuierlichen demografischen Aufwuchs und gleichzeitiges ökonomisches Wachstum bot ("the enabling background of the Roman miracle", 53). Auf diese Weise seien die malthusischen Zyklen, auf die Harper mehrfach rekurriert, gleichsam unterlaufen worden und demografischer, politischer sowie wirtschaftlicher Erfolg miteinander einhergegangen. Seit dem 2. Jahrhundert sei diese Entwicklung jedoch mehrfach unterbrochen worden - zunächst durch die sogenannte Antoninische Pest, da diese zu einem markanten demografischen Einbruch geführt habe, von dem sich das Reich, strukturell noch nicht geschädigt, zwar langsam wieder erholt habe, der jedoch die Ressourcen zur Bewältigung nachfolgender Herausforderungen vermindert habe. Aus diesem Grund habe die Verkettung einer weiteren Epidemie mit größeren politischen Turbulenzen im 3. Jahrhundert bereits zu einem tiefgreifenden Umbau des römischen Staates geführt, von dem nicht nur Kaisertum, Verwaltung, Provinzorganisation, Heer, Finanzwesen usw. betroffen gewesen seien, sondern der insbesondere auch im religiösen Bereich nachhaltige Spuren hinterlassen habe, indem er die Christianisierung des Imperium Romanum ermöglichte. Auf eine Erholungsphase im 4. Jahrhundert folgte in den beiden Generationen um 400 dann eine erneute Zäsur: Eine Klimaverschlechterung (als Teil der Late Roman Transitional Period, ca. 150-450) mit extremen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in der Eurasischen Steppe (Trockenheit und Dürren) habe zum Einbruch der Hunnen geführt, der eine Kettenreaktion auslöste, aus welcher wiederum die Desintegration des Weströmischen Reiches resultiert sei. Der Osten sei schließlich seit den 530er-Jahren in Form einer nochmaligen massiven Klimaverschlechterung (Late Antique Little Ice Age, ca. 450-700) sowie durch gewaltige Vulkanausbrüche, deren Folgen in den 530er- und 540er-Jahren zu den kältesten Dekaden der letzten 2000 Jahre führten, in seiner Existenz bedroht worden und habe zudem eine demografische Katastrophe überwinden müssen, als die 'Justinianische Pest' die Bevölkerung um etwa 50% reduziert habe und 200 Jahre lang endemisch blieb. Das daraus erwachsene apokalyptisch-endzeitliche Klima habe nicht nur nochmalige Veränderungen in der religiösen Praxis herbeigeführt (u.a. Aufschwung der Marienverehrung), sondern schließlich auch eine wesentliche Grundlage für Entstehung und Aufstieg des Islam als monotheistisch-endzeitlicher Religion gebildet.
Harper hat diese neue Geschichte des Römischen Reiches konsequent und auf breiter Basis 'traditionellen' und naturwissenschaftlichen Materials erzählt. Die sieben Kapitel seines Buches beschreiben zunächst (Kap. 1: "Environment and Empire", 6-22) zentrale Koordinaten der Lebensbedingungen im Imperium Romanum (unterschiedliche Klimazonen der einzelnen Regionen, Roman Climate Optimum als Ausgangsbasis für die Reichsbildung, Städte als tragende Säulen, aber auch als Horte von Keimen und Krankheiten, Resilienz), sodann (Kap. 2: "The Happiest Age", 23-64) die Situation des Reiches am Vorabend der 'Antoninischen Pest' - in jener Phase also, die Edward Gibbon als die glücklichste der Menschheitsgeschichte definierte -, die 'Antoninische Pest' (Kap. 3: "Apollo's Revenge", 65-118), die Übergangsphase im 3. Jahrhundert (Kap. 4: "The Old Age of the World", 119-159), die Konsolidierungs- und Stabilisierungsphase im 'langen' 4. Jahrhundert (Kap. 5: "Fortune's Rapid Wheel", 160-198), die 'Justinianische Pest' (Kap. 6: "The Wine-Press of Wrath", 199-245) sowie die 'Kleine Eiszeit in der Spätantike' (Kap. 7: "Judgement Day", 246-287).
Das Buch folgt der zentralen These, dass "the fate of Rome was played out by emperors and barbarians, senators and generals, soldiers and slaves. But it was equally decided by bacteria and viruses, volcanoes and solar cycles" (4f.); zum anderen wird aber auch immer wieder aufgezeigt, dass Rom letztlich an seinem eigenen Erfolg zugrunde gegangen sei. Denn so wie die Städte sich nicht nur zu Mittelpunkten des politischen und wirtschaftlichen Lebens sowie zu kulturellen Zentren entwickelten, stellten sie als Knotenpunkte eines sich zunehmend ausdifferenzierenden Handels- und Austauschnetzes auch Brutstätten für Keime und Erreger dar, was insbesondere für die Metropolen Rom und Konstantinopel anschaulich aufgewiesen wird. "The Roman disease environment was also formed by the connectivity of the empire" (17). Insbesondere die weitreichenden Verbindungen nach Zentralasien, Ostafrika und in den Raum des Indischen Ozeans, so Harper, bereitete dem Pesterreger Yersinia pestis den Weg in das Römische Reich, so wie wohl auch der Erreger der 'Antoninischen Pest', die der Verfasser sehr optimistisch mit den Pocken identifiziert (68; 102ff.), aus Regionen östlich des Imperiums eingeschleppt wurde (vgl. 94ff.; 99).
Harper entwirft ein faszinierendes Bild, das Schattenseiten römischen Alltags, die bisher allzu häufig ausgeblendet wurden, ins Bewusstsein rückt: Die hohe Kindersterblichkeit und niedrige Lebenserwartung (30f.; 73); die verheerenden hygienischen Bedingungen in den Städten (67; 81ff.); die Anfälligkeit des agrarischen und ökonomischen Systems bereits für geringe klimatische Schwankungen; die grundsätzliche (Immun-)Schwäche der Zeitgenossen aufgrund von Würmen und anderen Parasiten, durch verbreitete Infektionskrankheiten (Malaria, vgl. 86f.) und chronische Darmerkrankungen als Folge mangelnder Hygiene (78f.) sowie die zentrale Bedeutung klimatischer und epidemiologischer Faktoren für den Lebensalltag, für politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen. Dass man dem Autor nicht in jedem Detail wird folgen können oder bisweilen zumindest Diskussionsbedarf anmeldet, ist ganz selbstverständlich. So bleibt angesichts der geringen verfügbaren Datenmenge wohl weiterhin Skepsis bei der Kalkulation der Mortalität der 'Antoninischen' (Harper: 22-24% reichsweit, vgl. 112ff.) und 'Justinianischen' (Harper: 50%) Pest; auch über den Quellenwert der Schriften Cyprians für die Realität der Seuche des 3. Jahrhunderts und daraus möglicherweise erwachsene mentalitätsgeschichtliche Folgen ist bereits viel diskutiert worden und wird noch weiter zu debattieren sein (vgl. 138); fraglich ist auch, inwieweit die Ankunft der Hunnen tatsächlich auf Klimaveränderungen in der Steppe zurückgeführt werden kann (163; 191f., vgl. 192: "armed climate refugees on horseback"). Prinzipielle Schwierigkeiten ergeben sich schließlich in der Frage, inwieweit exogene (z.B. Klimaschwankungen) und anthropogene Faktoren miteinander interagieren; trotz seines prinzipiellen Optimismus hinsichtlich des Wertes und der Aussagekraft naturwissenschaftlicher Daten für historische Fragestellungen ist sich Harper durchaus der Gefahren deterministischer Argumentationsweisen bewusst und versucht ihnen mit komplexen Modellen vorsichtig entgegenzuwirken. Dass trotzdem etwa die 'Justinianische Pest' als zentraler Zäsurfaktor zwischen Spätantike und byzantinischem Mittelalter wird gelten können, bleibt davon unbenommen. Diese sachgerechte, methodisch sensible Vorgehensweise macht nicht zuletzt den hohen Wert des Buches aus, das bislang vernachlässigte Faktoren, über die man erst seit wenigen Jahren einigermaßen valide Aussagen treffen kann, zu Recht in einem zentralen Diskussionskomplex verankert: "The end of the Roman Empire [...] was not a continuous decline leading to inevitable ruin, but a long, circuitous, and circumstantial story in which a resilient political formation endured and reorganized itself, until it fell apart, first in the west and then in the east" (20).
Mischa Meier