Melanie Hembera: Die Shoah im Distrikt Krakau. Jüdisches Leben und deutsche Besatzung in Tarnów 1939-1945, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016, 352 S., ISBN 978-3-534-26786-6, EUR 89,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Mit der Veröffentlichung ihrer überarbeiteten Heidelberger Dissertation von 2014 legt Melanie Hembera eine lokalhistorische Fallstudie zur Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Tarnów unter dem nationalsozialistischen Besatzungsregime vor. In dieser südpolnischen Kreisstadt, die vor Beginn des Krieges mehr als 55 000 Einwohner zählte, hatten die Juden einen ungewöhnlich großen Bevölkerungsanteil von 45 Prozent und unterschieden sich nicht nur religiös, sondern auch sprachlich, kulturell und in ihren sozioökonomischen Strukturen deutlich von der polnischen Umgebung. Nur wenige hundert dieser Juden überlebten die fünfjährige deutsche Besatzungsherrschaft.
Die Verfolgung und Ermordung der Tarnower Juden rekonstruiert Hembera auf einer sehr breiten Grundlage von Forschungsliteratur bis zum Erscheinungsjahr 2013 sowie Quellen aus deutschen, polnischen, US-amerikanischen und israelischen Archiven, Museen und Forschungsstätten. Den bisherigen Forschungsstand ergänzt sie wesentlich durch die konsequente Einbeziehung der jüdischen Perspektive, vor allem auf Basis von Selbstzeugnissen Überlebender und von wenigen überlieferten Akten jüdischer Institutionen, besonders der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe. Neben zeitgenössischen Dokumenten und Selbstzeugnissen bilden die Ermittlungsakten der deutschen und polnischen Nachkriegsjustiz die dritte wichtige Quellengrundlage der Studie. Beigefügt sind zudem zehn bis auf eine Ausnahme zeitgenössische Fotografien, die aber lediglich illustrativen Zwecken dienen und nicht in die Analyse einbezogen werden.
In der chronologisch vom jüdischen Leben im Tarnów der Vorkriegszeit bis zur Ahndung der Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung Tarnóws nach dem Krieg gegliederten Studie nehmen die Kapitel zur "Entrechtung und Verfolgung" sowie "Vernichtung" den größten Teil der Darstellung ein. Hembera verdeutlicht hier die Besonderheiten der Situation in Tarnów, wo die Besatzer bis zum Beginn des Genozids im Juni 1942 noch keinen geschlossenen "jüdischen Wohnbezirk" abgegrenzt hatten, was die Lage der örtlichen Juden zunächst etwas erträglicher machte. Sehr differenziert und jenseits einer schematischen deutsch-polnisch-jüdischen Täter-Zuschauer-Opfer-Trichotomie schildert Hembera neben den brutalen deutschen Raub- und Mordtaten etwa auch den Fall des Wiener Treuhand-Unternehmers Julius Madritsch, der durch geschicktes Taktieren Juden in seinen Textilbetrieben zu beschützen versuchte, was jedoch "eine absolute Ausnahme" (232) blieb, geht auf die Rolle der polnischen Polizei und des Baudienstes sowie von Denunzianten ein, die Helfersdienste bei der Verfolgung und Vernichtung leisteten, erwähnt aber auch die Erfahrungen von Juden, die vielfältige Hilfe von ihren polnischen Nachbarn erfuhren, und betrachtet die ambivalente Rolle von Judenrat und jüdischem Ordnungsdienst im Ghetto ebenso wie den jüdischen Widerstand gegen die deutschen Mordaktionen.
In ihrem Fazit stellt Hembera fest, dass die örtlichen deutschen Besatzungsinstitutionen zwar große Spielräume hatten, wie sie die ihnen vorgegebene Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung verwirklichten, letztendlich jedoch das Täterhandeln im gesamten Generalgouvernement sich bei allen Abweichungen im Einzelnen ähnelte und in den gleichen Bahnen verlief. Auch die Überlebensstrategien und -chancen der Tarnower Juden glichen bei allen lokalen Besonderheiten schließlich denen der übrigen polnischen Juden, so dass auch in Tarnów das jüdische Leben gegen Kriegsende nahezu vollständig ausgelöscht war. Auch was die Ahndung der Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung der Stadt angeht, stellt Tarnów keine Ausnahme dar: Neben sechs in den ersten Nachkriegsjahren in Polen verurteilten deutschen Tätern, davon vier zum Tode, erhielten die vier in der Bundesrepublik verurteilten Täter mit einer Ausnahme geringe Haftstrafen. Das Gros der Täter entging somit einer Bestrafung.
Hembera hat mit ihrer Studie zur Verfolgung und Ermordung der Tarnower Juden eine solide, umfassende, unprätentiöse und auch sprachlich gelungene Studie vorgelegt, die sich durchweg auf der Höhe der Forschung bewegt und diese durch wichtige Details ergänzt und weiter differenziert hat.
Lars Jockheck