Hanno Hochmuth: Kiezgeschichte. Friedrichshain und Kreuzberg im geteilten Berlin (= Geschichte der Gegenwart; Bd. 16), Göttingen: Wallstein 2017, 392 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3092-4, EUR 29,90
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Selten gelingt es Historikern der Stadt- bzw. Urbanisierungsgeschichte, die lokale mit der allgemeinen Gesellschaftsgeschichte zu verknüpfen. Hanno Hochmuths Studie zu den beiden Berliner Arbeiterbezirken Friedrichshain und Kreuzberg meistert diese methodische Herausforderung, indem er als historische Versuchsanordnung die lokale Stadtgeschichte der beiden Bezirke am Beispiel zweier Straßen auf der Mikroebene als vergleichende Verflechtungsgeschichte analysiert. Er verbindet sie auf gelungene Weise mit den gesamtgesellschaftlichen Fragen des als "genuin stadthistorisch" (19) verstandenen Wechselverhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit als Gradmesser für Urbanisierungs- und gesellschaftliche Modernisierungsentwicklungen.
Hochmuths nun gedruckt vorliegende Dissertation zum einzigen Ost-West-Fusionsbezirk Berlins analysiert für die beiden ehemaligen Bezirke am Beispiel von zwei ausgewählten Straßen und ihren Kiezen (Kreuzberg/Sorauer Straße, Friedrichshain/Straße der Pariser Kommune) jeweils vergleichend drei Themenfelder der Stadtgeschichte: Wohnen, Kirche sowie Vergnügen. Abgeschlossen wird der Band durch einen Ausblick auf die Transformationszeit seit 1989/90 sowie mit einer Zusammenfassung. Diesen drei Hauptkapiteln seiner Analyse stellt Hochmuth einen historischen Überblick sowie eine Einleitung voran, in der er die Analyseabsichten, den Forschungsstand und die methodische Vorgehensweise skizziert. Hochmuths Ansatz und Ziel sind es, die Transformation von zwei eher proletarisch geprägten Arbeiterbezirken als Armenhaus des Berliner Ostens zu einem vereinten hippen Alternativbezirk mit akuten Gentrifizierungsproblemen in seiner Genese nachzuvollziehen und die Gründe für diese Entwicklung zu skizzieren.
Hochmuth wählt als Ansatz eine vergleichende Methode in Form einer "blockübergeifenden parallelen Problemgeschichte" (14) nach Kleßmann, mit dem Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Verflechtungen zwischen beiden Bezirken gesucht werden. Die Analyse ist insgesamt eher narrativ angelegt denn als strukturgeschichtlich-systematischer Vergleich, was zu einer deutlich erhöhten Lesbarkeit auch für breitere Kreise von an Stadt- und Lokalgeschichte Interessierten führt. Hochmuth unterstellt als Prämisse für die staatssozialistische Sphäre der DDR des Bezirks Friedrichshain einen pluralisierten öffentlichen Raum und unterstützt damit ein flexibles Verständnis von Öffentlichkeit, ohne dass eine solche Ost-West-Vergleichsstudie zu einer bloßen positiv-negativ-Folie herabgestuft würde. Der Autor bezieht Ansätze wie etwa die Visual History mit einer exakten Analyse von Fotos oder von Filmen ein ("Die Legende von Paul und Paula" von Heiner Carow als berühmtester Friedrichshain-Film und einem der erfolgreichsten Filme der DDR überhaupt) und unterstreicht somit seine Kompetenz im reflektierten Einsatz modernster geschichtswissenschaftlicher Analysemethoden. Primärer Untersuchungszeitraum sind die 1960er bis Ende der 1980er Jahre mit einem knappen historischen Vorlauf und einem Nachklapp bis zur gentrifizierten Gegenwart der beiden Wohnlagen, die heute mit ihren pittoresk sanierten Mietskasernen zu den attraktivsten der Hauptstadt gehören.
Die Studie überzeugt insgesamt als gut lesbare und strukturell klug angelegte Analyse von Parallelentwicklungen und Differenzen in den beiden Bezirken. Einige wenige Punkte sind allerdings kritisch zu werten. So ist der Forschungsstand insgesamt zu formal abgehandelt, die relevante Forschungsliteratur wird vom Autor zu wenig gewertet und kritisch evaluiert. Einige wichtige Werke der stadthistorischen Grundlagenliteratur zum Thema sind Hochmuth entgangen, obgleich sie zur Basisliteratur der Berlin-Forschung und zur Öffentlichkeit in der DDR gehören. [1] Die Untersuchung ist stark aus der Sekundärliteratur und weniger durch intensive Quellenrecherche in Archiven erarbeitet, was aber keinen Nachteil darstellt. Zur wichtigen lebensweltlichen Dimension der "Privatheit" hätte es nahegelegen, auch mit Methoden der Oral History Zeitzeugen einzubeziehen, was nur in sehr geringem Umfang und nicht systematisch erfolgt ist. Grundlegender sind einige inhaltlich-methodischen Desiderate, so etwa die erstaunliche Abwesenheit von im engeren Sinn politikgeschichtlichen Fragen, z.B. nach der Rolle der lokalen Politik in den beiden Bezirken. Und es gelingt Hochmuth nicht immer, alte Forschungsklischees kritisch zu hinterfragen, wonach der Osten fortwährend auf die Vorbildwirkung des Westens orientiert war, etwa auf dem Feld der Stadterneuerung, auf der Ost-Berlin aber tatsächlich mit dem Arkonaplatz seit 1971 der später so berühmt gewordenen behutsamen Stadtsanierung in West-Berlin zumindest zeitlich voranschritt. Oder für die Frage des Vorhandenseins von Gegenöffentlichkeiten, die aber, wenn auch in geringerem Ausmaß und differenzierter Form, auch in der DDR Ende der 1980er Jahre zunehmend entstanden sind (z.B. die kritische Ausstellung gegen die autogerechte Stadt in Erfurt 1987).
Dennoch überwiegen die positiven Eindrücke bei weitem. Hochmuth hat für eine Dissertation und eine methodisch präzise reflektierte Studie ein extrem gut lesbares Buch vorgelegt. Die herangezogenen lebensweltlichen Vergleichsfelder von Wohnen, Kirche und Vergnügen sind klug ausgewählt und stellen relevante Untersuchungsfelder für die zentrale Fragestellung nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit dar. Die empirische Lokalisierung des stadtgeschichtlichen Vergleichs ist mit dem einzigen Ost-West-Fusionsbezirk von Berlin und den dort ausgewählten Kiezen gut begründet. Diese empirische Fokussierung funktioniert als lokalhistorische Detailuntersuchung auf der Mikroebene, um die angepeilten Analysekategorien auf der gesellschaftsgeschichtlichen Makroebene zu verifizieren, gerade auch weil die relevante internationale Forschungsliteratur kundig verarbeitet worden ist.
So versteht es Hochmuth, trotz einer dezidiert mikrogeschichtlichen Perspektive die lokal- und die zeitgeschichtliche Schwerpunktsetzung zweier Straßen im Berliner Osten dennoch in den gesamtgeschichtlichen Kontext der Urbanisierungs- und allgemeinen Gesellschaftsgeschichte einzubetten. Sein lokaler Ansatz ermöglicht eine Konkretisierung der Vergleichsmomente mit lebendigen Akteuren oder punktuellen Verflechtungen, die auch tatsächlich lokal wirksam stattfanden. Dadurch wird seine exemplarische Geschichte der Individualisierung und Erarbeitung privater Rückzugsräume für Stadtbewohner als ein anthropologisches Grundelement der Urbanisierungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, die erst nach 1945 so richtig realisierbar war, äußerst lebendig und nachvollziehbar. Der Autor arbeitet dabei die deutlichen Unterschiede, aber auch die temporalen Konvergenzen zwischen Kreuzberg und Friedrichshain als lokale Berliner Prototypen der Systemkonkurrenz gut heraus. Es wird deutlich, dass die Bewohner in beiden Straßen trotz der Mauer vor ähnliche gesellschaftliche Herausforderungen gestellt wurden und sich ihnen differenzierte Freiräume und Nischen für alternative Lebensformen eröffneten, mit denen sie neue Gegenöffentlichkeiten etablieren konnten. Insgesamt konstatiert Hochmuth deutlich weniger Verflechtungskomponenten zwischen beiden Stadtbezirken in der Zeit der Teilung als ursprünglich erwartet. Der Autor hat nicht nur ein höchst lesbares und relevantes Stück lokalbasierter Urbanisierungs- und Stadtgeschichtsforschung erarbeitet, sondern mit seinem Schlusskapitel und der Beschreibung der Genese der Gentrifizierung der aktuell so hippen Bezirke Kreuzberg und Friedrichshain und der Bedeutung des Kiez-Phänomens ein auch für aktuelle gesellschaftliche Fragen höchst interessantes Buch verfasst, das die Forschung bereichert und hoffentlich viel gelesen wird.
Anmerkung:
[1] Eine kleine Auswahl: Wolfgang Ribbe (Hg.): Berlin 1945 - 2000. Grundzüge der Stadtgeschichte, Berlin 2002; Sigurd-H. Schmidt / Heike Schroll / Volker Viergutz: Vor 75 Jahren: Groß-Berlin entsteht. Ausstellungskatalog, Berlin 1995; Dieter Hanauske: "Bauen, bauen, bauen ...!" Die Wohnungspolitik in Berlin (West) 1945 - 1961, Berlin 1995; Michael Meyen: Öffentlichkeit in der DDR. Ein theoretischer und empirischer Beitrag zu den Kommunikationsstrukturen in Gesellschaften ohne Medienfreiheit, in: Studies in Communication/Media 1 (2011), 3-69; Thomas Topfstedt: Zur Gestaltung und zum Begriff des öffentlichen Raumes im Städtebau der DDR während der 1950er und 1960er Jahre, in: Heinz Nagler / Riklef Rambow / Ulrike Sturm (Hgg.): Der öffentliche Raum in Zeiten der Schrumpfung, Berlin 2004, 73-81.
Harald Engler