Scott H. Krause: Bringing Cold War Democracy to West Berlin. A Shared German-American Project 1940-1972 (= Routledge Studies in Modern European History), London / New York: Routledge 2019, XV + 284 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-1-138-29985-6, GBP 105,00
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Reuters Kämpferisches "[D]aß hier in dieser Stadt ein Bollwerk, ein Vorposten der Freiheit aufgerichtet ist, den niemand ungestraft preisgeben kann" [1] ist der Nukleus von Scott H. Krauses Dissertation. Der Willy-Brandt-Preisträger zeichnet darin die Entstehungs- und Verlaufsgeschichte dieses Narrativs, seiner Protagonisten und Unterstützer über drei Jahrzehnte nach. Sozialdemokratische Remigranten sowie ihre linksliberalen Förderer in den Vereinigten Staaten und bei der amerikanischen Militärverwaltung in Berlin etablierten die antitotalitär-westliche Spielart von Demokratie als Identität und Staatsform für West-Berlin und waren bestrebt, darüber auf die Entwicklung der Bundesrepublik Einfluss zu nehmen.
Krause findet sich hiermit an der Schnittstelle verschiedener Forschungstrends wieder: Seine Monographie bedient sowohl das wiedererstarkte Interesse an der Historisierung der West-Berliner Zeitgeschichte, als auch pulsierende Ansätze in den Forschungsbereichen der Netzwerkforschung und der Kulturgeschichte der alliierten Besatzung.
Das Theoriemodell der Epistemic Community, das maßgeblich von dem Politikwissenschaftler Peter M. Haas eine methodische Aktualisierung erfahren hat [2], nimmt der Autor als Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Krause nutzt diese Methode, um auf Grundlage von Quellenbeständen unterschiedlichster Provenienz (staatliche Akten, private Nachlässe, zeitgenössische Medienberichterstattung) sichere Aussagen über die Entstehung und den Einfluss der Gruppe um Ernst Reuter und später Willy Brandt treffen zu können (5 f.).
Ausgehend von einer Bestandsaufnahme der Ausgangssituation in der Viersektorenstadt, verfolgt Krause in fünf weiteren Kapiteln - fokussiert auf die Biographien der Netzwerkmitglieder - den Wettbewerb um Deutungshoheit und politische Entscheidungsmacht im Kontext der Berliner Nachkriegsgeschichte. Die Voraussetzung des Remigranten-Netzwerks lag in der persönlichen Wandlung und den geknüpften Kontakten im amerikanischen Exil. Auf dieser Grundlage gelang es Ernst Reuter, unterstützt durch die amerikanische Public Affairs Branch, West-Berlin als "Außenposten der Freiheit" neu zu definieren. Das mediale Ausnutzen der Luftbrücke als sinnstiftendes Schlüsselereignis und die Kampagnenfähigkeit des eng mit dem Netzwerk verflochtenen "Rundfunks im amerikanischen Sektor" (RIAS) in den Folgejahren verfestigte die neue Meistererzählung in West-Berlins Bevölkerung, Parteienlandschaft und Stadtpolitik.
Dass im Jahr 1953 der Volksaufstand in der DDR, Reuters plötzlicher Tod sowie die Untersuchungen der McCarthy-Kommission gegen Linksliberale vor Ort und in der "Berlin Lobby within the United States" (143) zusammenfielen, bedeutete für das Netzwerk eine dreifache Bewährungsprobe und Zäsur. Folglich konzentriert sich Krauses Darstellung auf die Person Willy Brandts und seiner Aneignung des Narrativs. Hierbei weist der Autor nach, dass Brandts parteiinterner Aufstieg - zunächst in der Berliner SPD und anschließend in der Bundespartei - Ergebnis eines koordinierten Vorgehens des Netzwerks in Berlin und den USA gewesen ist. Krauses Offenlegung von verdeckten Spendenzahlungen amerikanischer Behörden an Brandts Umfeld fand sogar eine populäre Rezeption. [3] Zusammen mit Brandt trat eine jüngere Generation an die Spitze des Netzwerks, die nach dem Mauerbau im Jahr 1961 das Outpost-Narrativ einer Revision unterzog. Obwohl der amerikanische Präsident John F. Kennedy West-Berlins Selbstverständnis in seiner Rede vor dem Rathaus Schöneberg mit höchsten Weihen auszeichnete, unternahmen Brandt und sein Pressesprecher Egon Bahr eine programmatische Neuausrichtung ("Wandel durch Annäherung"), um schließlich 1969 bundesweit mehrheitsfähig zu sein. Krause beurteilt diesen Schritt als "a creative reinterpretation of the Outpost of Freedom narrative" (244). Dieser letzte Argumentationsschritt sollte als anregender Ausblick gelesen werden. Denn strittig bleibt, ob Brandts Schwenk zur Détente-Politik in der Tradition des Netzwerks und seiner Narration liegt oder dessen Ablösung darstellt.
Abgesehen davon kann Krause mit seinen Grundpositionen überzeugen. Die Teilstadt illustrierte nicht nur den Ost-West-Konflikt, sondern übernahm stellenweise auch eine Pionierfunktion für die demokratische und transatlantische Entwicklung der Bundesrepublik. Entscheidenden Anteil daran hatten die im Outpost-Narrativ transportierten "integrative qualities of anti-Communism" (263). Entscheidungen des Netzwerks um die Galionsfiguren Ernst Reuter und Willy Brandt trugen maßgeblich zu deren Durchsetzung bei.
Über das gesamte Buch hinweg führt der Autor den Leser stilistisch lebendig und prägnant durch sein stringent untergliedertes Erstlingswerk. Ungewöhnlicher Weise gibt es kein zentrales Literatur- und Quellenverzeichnis, sondern der Verlag hat sich für einen kapitelweise angefügten Anmerkungsapparat entschieden. Diese Entscheidung überzeugt, wenn man berücksichtigt, dass Fachliteratur in vielen Fällen ausschnittsweise herangezogen wird.
An manchen Stellen hätte man sich gewünscht, dass das bilaterale Beziehungsgeflecht zwischen deutschen Remigranten und amerikanischen Unterstützern mit einem Seitenblick auf die anderen Westalliierten aufgebrochen worden wäre. Wie bei der Darstellung des Volksaufstandes von Krause anhand der Kontrastfolie SED- und MfS-Akten demonstriert, verspräche die Hinzuziehung britischen und französischen Materials sowie von Quellen des Nordwestdeutschen Rundfunks und des Senders Freies Berlin eine genauere Einschätzung der Auswirkungen und der Schlagkraft der neuen Sinnstiftung.
Anmerkungen:
[1] Rede auf der Protestkundgebung vor dem Reichstagsgebäude am 9. September 1948 gegen die Vertreibung der Stadtverordnetenversammlung aus dem Ostsektor, in: Ernst Reuter, Schriften und Reden, Bd. 3: Artikel - Briefe - Reden 1946 bis 1949, bearb. v. Hans J. Reichhardt, Berlin 1974, Dok. Nr. 110, 477-479.
[2] Vgl. Peter M. Haas: Introduction. Epistemic Communities and International Policy Coordination, in: International Organization 46 (1992) 1, 1-35; ders.: Epistemic Communities, in: The Oxford Companion to Comparative Politics, Vol. 1: Abortion - Korea, Republic of, ed. by Joel Krieger, Oxford u. a. 2013, 351-359.
[3] Vgl. Klaus Wiegrefe: "Ein bisschen Druck", in: Der Spiegel 24 (2018), 09.06.2018, 50.
Alexander Olenik