Thomas M. Bohn / Aliaksandr Dalhouski / Markus Krzoska: Wisent-Wildnis und Welterbe. Geschichte des polnisch-weißrussischen Nationalparks von Białowieża, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017, 401 S., 55 Farb-, 50 s/w-Abb., 5 Tabl., ISBN 978-3-412-50943-9, EUR 45,00
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Die vorliegende Monografie, verfasst von einem internationalen Autorenteam, ist der Geschichte der europäischen Wisente im belarussisch-polnischen Grenzgebiet gewidmet. Sie ist das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit deutscher (Thomas M. Bohn und Markus Krzoska) und belarussischer (Aliaksandr Dalhouski) Historiker. Die Nutzung vielseitiger Quellen aus 37 Archiven und Bibliotheken in Belarus, Deutschland, Polen und Russland ermöglichte es ihnen, ein breites Panorama des Zusammenwirkens von Mensch und Natur in dem einmaligen Waldgebiet an der belarussisch-polnischen Grenze in historischer Perspektive zu zeichnen und die damit zusammenhängende Erhaltung der "historischen Wurzeln" des ältesten europäischen Nationalparks zu thematisieren. Dieses originelle wissenschaftliche Genre leistet nicht nur einen Beitrag zur nationalen belorussischen, deutschen und polnischen Geschichte, sondern es bereichert auch die europäische Geschichtsschreibung.
Das Buch enthält neun Teile, einschließlich Einleitung und Zusammenfassung, und setzt Akzente auf die wichtigsten geschichtlichen Ereignisse dieser einmaligen Region. Es thematisiert positive wie negative Folgen der Einwirkung des Menschen auf die Natur, macht den Umfang der industriellen Nutzung und des Raubes an Wald- und Naturressourcen besonders in der Zeit der beiden Weltkriege deutlich und zeigt die gegenwärtigen Trends in der Entwicklung auf. Auf einer breiten Quellenbasis wird das historische Schicksal von Wisent und Nationalpark dargestellt. Dabei werden auch die Entstehungsgeschichte dieses Waldgebiets und vor allem seine Umwandlung in ein Schutzgebiet und gleichzeitig in eine Destination des internationalen Tourismus deutlich, besonders unter den Bedingungen der heutigen Globalisierung und Kommerzialisierung.
Im zweiten Kapitel wird der Leser mit der staatlichen Monopolisierung der Waldressourcen in der Region des Schutzgebiets bekannt gemacht. Diese setzte um die Mitte des 16. Jahrhunderts ein, als die Waldfläche in eine Jagdwirtschaft umgewandelt wurde, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts in dieser Form fortbestand. Bemerkenswert ist, dass die Autoren hinsichtlich der Geburtsstunde des Nationalparks Białowieża von dem in der belarussischen und polnischen Historiographie allgemein akzeptierten Datum der erstmaligen Erwähnung dieses Waldes, nämlich 1409, Abstand nehmen. Stattdessen lassen sie sich von dem Sondergesetz über den Wald- und Tierschutz leiten, das 1538 Sigismund I., der große litauische Fürst und polnische König, erlassen hatte. Von wissenschaftlichem Wert ist in diesem Kapitel die Tabelle, die staatliche Daten über die Wisent-Population in Białowieża zwischen 1821 und 1919 präsentiert, darunter Angaben über das Verschwinden der letzten Wisente im Jahre 1920. Aus der Tabelle geht hervor, dass die Wisentpopulation 1897 am größten war und 1898 Tiere zählte.
Kapitel drei umfasst die Jahre des Ersten Weltkrieges, als die deutsche Oberste Heeresleitung versuchte, auf dem Białowieża-Gelände eine "Musterwirtschaft" aufzubauen und sich dabei auf Erfahrungen aus der Kolonialherrschaft in Afrika stützte (73). Einerseits resultierte das in einer flächendeckenden Abholzung des Waldes, um die Bedürfnisse des Reichs an Holz zu decken; andererseits garantierte die Abholzung bestimmter Waldflächen das Jagdvergnügen hoher Herren.
In Kapitel 4 werden historische Besonderheiten von Białowieża in der Zeit zwischen den Weltkriegen im wiederhergestellten polnischen Staat behandelt. Die Autoren halten dabei die Tendenz zur aktiven "Polonisierung" und der Modernisierung in der Entwicklung dieser Region fest. Während die Polonisierung im Ersatz der orthodoxen Kirche durch die polnisch-katholische im Alltagsleben zum Ausdruck kam, wurde die Modernisierung mit einer groben Ausbeutung der Waldressourcen und Förderung der Jagd gleichgesetzt. Die Autoren heben dabei hervor, dass der Tourismus im Naturschutzgebiet Białowieża immer mehr an Bedeutung gewann, seit das Gelände im Jahre 1932 strukturell umgebaut und zum polnischen Nationalpark erklärt wurde.
Im fünften Kapitel werden zum einen die Ergebnisse der Sowjetisierung des östlichen Teils des Nationalparks nach seiner Integration in die Belorussische Sowjetrepublik und zum anderen seine Umwandlung in eine Sonderzone für die Jagd der nazistischen Elite während des Zweiten Weltkrieges gezeigt. Während die Sowjetmacht den Nationalpark in ein Schutzgebiet zu verwandeln versuchte und an seinen Ressourcen wirtschaftlich interessiert war, wurde die Zeit der deutschen Besatzung dieser Gegend zu einer "dramatischen Phase der Geschichte" (167). Die nationalsozialistische Politik des Terrors führte nicht nur zu Massenerschießungen der Juden und sowjetischer Aktivisten vor Ort, sondern auch zur Zwangsaussiedlung der Bevölkerung in großem Maßstab. Während des Rückzugs der Wehrmacht und der Befreiung der Gegend im Juli 1944 wurde auch der Tierwelt der größte Schaden zugefügt.
Die Errichtung der zwischenstaatlichen Grenze nach dem Krieg führte zu einer Zweiteilung des Waldgebiets, was den ursprünglichen Plänen zuwiderlief, einen einheitlichen Nationalpark anzulegen. Die Veränderungen im sozialistischen Polen werden im sechsten Kapitel thematisiert. Diese zeugen von komplexen Maßnahmen zum Schutz des Nationalparks, zur weiteren Erhaltung der Tierwelt und zur wirtschaftlichen Nutzung dieses Gebietes.
Der Geschichte des Waldes im Sowjetischen Belarus ist Kapitel 7 gewidmet. Die Autoren zeigen, dass die belarussischen Akteure sich in dieser Frage vom polnischen Konzept leiten ließen, welches zwei Ideen beinhaltete: die der Gründung eines Nationalparks und die einer wirtschaftlichen Nutzung seiner Umgebung. Grundlegende Veränderungen wurden nach einem Dekret der belarussischen Regierung vom August 1957 vollzogen, das den Białowieża-Wald in ein Objekt staatlicher Politik umwandelte. Der Wald wurde in dieser Zeit praktisch in ein Schutzgebiet verwandelt, das für einfache Leute geschlossen war, für die Erholung und Jagd der Partei- und Staatselite jedoch offenstand. Als Ergebnis bestanden dort bis Anfang der 1990er Jahre zwei parallele Welten: ein Schutzgebiet für die Wisente und einige Jagdgebiete.
Im achten Kapitel stehen die Transformation und Europäisierung des Białowieża-Waldes im Mittelpunkt. In seinem polnischen Teil kamen nach 1989 Fragen auf die Tagesordnung, die einerseits vom wachsenden Interesse der Wissenschaftler und Naturfreunde an Erhalt und Weiterentwicklung des Nationalparks zeugen, andererseits aber auch das Interesse der örtlichen Bevölkerung an der Verbesserung ihrer Situation durch eine schnelle Entwicklung des Tourismus widerspiegeln. Diese Periode der postsowjetischen Geschichte zeichne sich durch Internationalisierung und Kommerzialisierung aus. Erst unter diesen Bedingungen hat das Naturgebiet die Form eines Agrar- und Handels-, Industrie- und Tourismus- sowie Wald- und Wirtschaftskomplexes bekommen. Als ein Meilenstein auf diesem Weg gilt das Jahr 2009, als in Polen und Belarus das 600jährige Jubiläum des Białowieża-Waldes groß gefeiert wurde und staatliche Repräsentanten dazu aufriefen, ihn zum nationalen "Heiligtum" zu erklären (338).
In ihrem Resümee überzeugen die Autoren mit dem Gedanken, dass es ohne den Wald auch keine Wisente geben würde; umgekehrt sei der Wald dank der Wisente da. Diese Überlegung wird nicht nur durch zahlreiche Dokumente untermauert, sondern auch durch viele Fotos, von denen manche einmalig und wenig bekannt sind. Bedauerlich ist allerdings, dass der Mensch, auf den es bei der Erhaltung des Waldes und seiner reichen Pflanzen- und Tierwelt ankam, hier wenig Beachtung findet. Die Autoren kommen nur flüchtig auf die ethnographischen Besonderheiten dieser Region zu sprechen. Über den Alltag der Bevölkerung, über ihren Wohlstand und Kultur in verschiedenen Epochen, über die Überlebensstrategien auf diesem Territorium zu verschiedenen historischen Zeiten und gesellschaftspolitischen Bedingungen bleibt der Leser im Unklaren.
Dennoch leistet der Band einen wichtigen Beitrag zu einem wenig erforschten Aspekt der europäischen Geschichte an der belarussisch-polnischen Grenze.
Siarhei Novikau