Christian Jansen: Netzwerke und virtuelle Salons. Bedeutung und Erschließung politischer Briefe des 19. Jahrhunderts im digitalen Zeitalter (= Lectiones Inaugurales; Bd. 18), Berlin: Duncker & Humblot 2018, 93 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-428-15145-5, EUR 19,90
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Unter dem Titel "Altbacken und von gestern - der Brief dankt ab" stimmte im Sommer 2017 die "WirtschaftsWoche" einen Abgesang auf ein Kommunikationsmittel an, das als "uncool" gelte. [1] So erwarte die Deutsche Post auch in Zukunft einen Rückgang von zwei bis drei Prozent der Briefvolumina. Auch wenn sich diese Entwicklung in den vergangenen Jahren beschleunigt hat, zeichnete sie sich bereits vor einem Jahrhundert ab, als das Telefon allmählich für jedermann zugänglich wurde. Damit endete auch das "lange Jahrhundert" des politischen Briefes, das Christian Jansen in seinem schmalen Band zwischen etwa 1780 und 1920 ansetzt (77). Der Text beruht - ausweislich des Vorworts - auf der Antrittsvorlesung des Trierer Lehrstuhlinhabers für Neuere und Neueste Geschichte von 2015 und auf einem bereits vor zehn Jahren publizierten Aufsatz [2], angereichert mit Überlegungen zur Netzwerkforschung. Jansen verfolgt zwei Absichten: Zum einen will er die Bedeutung von Briefen als historische Quelle herausarbeiten, die bei einer akteurs- und erfahrungszentrierten kulturgeschichtlichen Geschichtswissenschaft wieder Konjunktur habe; zum anderen sollen die Überlegungen Jansens Möglichkeiten zur Erschließung und Edition von Briefen im digitalen Zeitalter vorstellen (10).
Die Entstehung einer Briefkultur und von Briefnetzwerken begann, so Jansen im Anschluss an die einschlägige Forschung [3], im Zusammenhang mit der Entstehung einer bürgerlichen politischen Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. [4] Im Brief als Selbstfindungsprozess manifestierte sich ein Bekenntnisdrang, der sich im Sinne des gepflegten Freundschaftskultes dialogisch an ein Gegenüber richtete. Es entwickelte sich in Salons und Briefnetzwerken eine "bildungsbürgerliche Diskussionskultur" abseits von der "akademisch-exklusiven Gelehrsamkeit" (14). Mit der amerikanischen und französischen Revolution sowie der Durchsetzung des Deutschen als Briefsprache und als Ausdruck "eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls" (19) setzt nach Jansen das Zeitalter des politischen Briefes ein. Politische Briefnetzwerke fungierten als virtuelle Räume für theoretische und programmatische Debatten, als "virtuelle Salons", die im Laufe des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle bei der Nationsbildung und Fundamentalpolitisierung spielten. Fragwürdig bleibt in diesem Zusammenhang Jansens "pragmatische Definition" des politischen Briefes, der sich unabhängig vom Inhalt allein dadurch auszeichne, "dass entweder Schreiber oder Empfänger (oder beide) politische Akteure waren." (21) Doch wer ist dann als politischer Akteur zu verstehen? Und warum sollen Briefschreiber, die nicht auf der politischen Bühne agieren, sich aber über öffentliche Angelegenheiten austauschen, nicht berücksichtigt werden?
Neben dem Reisen war im 19. Jahrhundert der Brief das zentrale Kommunikationsmittel, um Informationen über größere Entfernungen auszutauschen. Jansen skizziert die großen Veränderungen hinsichtlich Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit der Briefbeförderung, die dramatische Steigerung des Briefaufkommens vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte, die zunächst hohen Portokosten mit entsprechenden sozialen Exklusionen und die zumeist unzulänglichen Zensurmaßnahmen der Behörden. Zudem bildete sich eine polare Geschlechterordnung heraus: Männer dominierten im politischen Brief, während Frauen auf den intimen und privaten Bereich der Korrespondenz festgelegt wurden. Diese Bemerkungen zu einer - vor allem bürgerlichen - politischen Briefkultur im 19. Jahrhundert und ihren Rahmenbedingungen sind freilich bekannt und über weite Strecken bereits wortwörtlich in dem bereits erwähnten Aufsatz Jansens vor knapp zehn Jahren nachzulesen.
Bei allem Anschein von Authentizität warnt Jansen vor einer naiven Herangehensweise an den politischen Brief als historische Quelle. Die Veröffentlichung und Nachwirkung von Briefen war bei vielen Verfassern bereits mitgedacht. So gelte es, das Moment der Inszenierung durch den Autor gegenüber Empfänger und Nachwelt quellenkritisch in Rechnung zu stellen. Überspitzt heißt es für die briefliche Kommunikation: "Die Inszenierung ist das Authentische" (91). Ob dann das Gegensatzpaar Authentizität - Inszenierung / Schein überhaupt noch ein sinnvolles quellenkritisches Instrument für die Analyse von Briefen sein kann, erscheint im Hinblick auf eine kulturalistische Geschichtsschreibung aber mehr als fragwürdig.
Anregend werden Jansens Überlegungen, wenn er der klassisch gedruckten, linearen und auf nur einen Autor zentrierten monologischen Briefedition eine fundamentale Krise attestiert. Nicht nur bieten digitale Editionen die Möglichkeit, ohne fragwürdige Auswahlverfahren und unabhängig von der Begrenztheit eines Bandes vollständige Briefwechsel aufzunehmen - wobei die arbeitsökonomische Limitierung immer noch erheblich ist. Darüber hinaus lässt sich die Komplexität eines "polyzentrischen Briefnetzwerkes" (11) überhaupt erst durch den Einsatz digitaler Programme in adäquater Form, nämlich dialogisch und mehrdimensional darstellen. Im Rückgriff auf die soziale Netzwerkanalyse und große Datenbestände können so Briefnetzwerke computergestützt visualisiert werden, sei es als Ego-Netzwerk, bei dem die Beziehungen einer Fokusperson zu anderen Personen im Mittelpunkt stehen, oder als Gesamtnetzwerk, um "alle für eine Fragestellung relevanten Akteure und Beziehungen zu erfassen" (34). Auf diese Weise lassen sich Strukturen und Merkmale beispielsweise politischer Vereine aufschlüsseln, Intensitätsgrade und Dichte von Beziehungen und Zentralitätsmaße von Akteuren berechnen und darstellen. Die computergenerierten Visualisierungen dieser Briefnetzwerke wirken, wie die Beispiele zeigen, sehr komplex und unübersichtlich, doch lassen sich Strukturen von Teilnetzwerken sichtbar machen - ein großer Vorteil gegenüber textbasierten Darstellungen. Zu Recht schränkt Jansen jedoch ein, dass von dieser Darstellungsform die Suggestionskraft einer scheinbar objektiven Visualisierung ausgehe, die immer noch analysiert und interpretiert werden müsse.
Der Wert dieser schmalen Publikation von nicht einmal 100 Seiten ist ein begrenzter. Jansen kann den Leser für einige wichtige Aspekte der Bedeutung des politischen Briefes im 19. Jahrhundert sensibilisieren; bedauerlich ist aber, dass er dabei über weite Strecken auf Bekanntes, bereits von ihm selbst Publiziertes zurückgreift. Dass ist vielleicht dem Anlass, einer Antrittsvorlesung, geschuldet. Darauf zurückzuführen ist womöglich auch der unsystematische, eklektizistisch anmutende Aufbau der Schrift. Wer sich mit digitalen Editionen beschäftigt, wird wenig Neues erfahren. Allenfalls die Abschnitte, die Anregungen für die computergesteuerte Darstellung von multiplexen Netzwerkbeziehungen anhand großer Briefdatenbanken geben, machen die Lektüre dieser Schrift wiederum lohnenswert. Sie bieten Perspektiven für die Analyse von Briefnetzwerken großer Kommunikationsverbände, und zwar über das 19. Jahrhundert hinaus. Die Ausläufer einer bürgerlichen politischen Briefkultur lassen sich bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgen. Allein das Briefnetzwerk von Theodor Heuss, der etwa 60.000 Schreiben verfasst hat, ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel. [5]
Anmerkungen:
[1] https://www.wiwo.de/erfolg/trends/postbrief-altbacken-und-von-gestern-der-brief-dankt-ab/19977166.html [abgerufen am 14.6.2018].
[2] Christian Jansen: Briefe und Briefnetzwerke des 19. Jahrhunderts, in: Christina Antenhofer / Mario Müller (Hgg.): Briefe in politischer Kommunikation vom Alten Orient bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2008, 185-204.
[3] Zum Beispiel Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, 2 Bde., Berlin 1889 / 1891 (Nachdruck Dublin / Zürich 1968); Rainer Baasner (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999.
[4] Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied u.a. 1962.
[5] Ernst Wolfgang Becker: Ein Haus voller Briefe für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zum Stand der Edition "Theodor Heuss. Stuttgarter Ausgabe", in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 17 (2005), 215-234.
Ernst Wolfgang Becker