Rezension über:

Joël Chandelier: Avicenne et la médecine en Italie. Le Canon dans les universités (1200-1350) (= Sciences, Techniques et Civilisations du Moyen Âge à l'Aube des Lumières; 18), Paris: Editions Honoré Champion 2017, 604 S., 9 Tbl., ISBN 978-2-7453-3437-4, EUR 98,00
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Rezension von:
Klaus Bergdolt
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Bergdolt: Rezension von: Joël Chandelier: Avicenne et la médecine en Italie. Le Canon dans les universités (1200-1350), Paris: Editions Honoré Champion 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 10 [15.10.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/10/30871.html


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Joël Chandelier: Avicenne et la médecine en Italie

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Das in jeder Hinsicht vorbildliche Werk, das durch die ungewöhnlich breite Quellenrecherche des Autors, aber auch dessen subtile Kenntnisse der hoch- und spätmittelalterlichen Medizingeschichte Italiens fasziniert, füllt eine wichtige Lücke, was die Rezeptionsgeschichte der arabischen Medizin im Westen angeht. Es ging aus einer 2007 abgeschlossenen Doktorarbeit an der École pratique des Hautes Études hervor, die von Danielle Jacquart betreut wurde. Das Werk Avicennas, des großen persischen Arztes des 11. Jahrhunderts (980-1037), wurde im Westen durch die in ihrer Wirkungsgeschichte kaum zu überschätzende Übersetzerschule Gerhards von Cremona bekannt, die im rechristianisierten Toledo des 12. Jahrhunderts tätig war und neben philosophischen sowie allgemein naturwissenschaftlichen auch Basiswerke der "arabischen" Medizin der "lateinischen" Heilkunde zugänglich machte. Erst im späten 13. Jahrhundert setzten diverse italienische Übersetzerschulen, vor allem im Umfeld Wilhelm von Moerbekes, der an der päpstlichen Kurie tätig war, durch direkte Übersetzungen philosophischer und naturwissenschaftlicher Werke aus dem Griechischen (Gerhard von Cremona hatte in der Regel arabische Vorlagen) neue Akzente.

Die erste Arztpersönlichkeit, die im universitären Umfeld Italiens, zumindest nach heutiger Forschungslage, auf den Canon medicinae zurückgriff, war Petrus Hispanus, der spätere Johannes XXI. (der einzige Arzt, der je den Stuhl Petri bestieg), welcher in Paris studiert hatte. Gerade in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurden zahlreiche Manuskripte des lateinischen Canon (oder, was noch häufiger war, einiger Teilabschnitte) produziert. Chandelier konnte hier allein 32 Exemplare identifizieren. Als ältestes lateinisches Manuskript des in der Folgezeit von vielen westlichen Ärzten kommentierten Werks gilt ein aus dem Kloster Bobbio stammender, von Gerhard (Girrardus) signierter Band, der sich heute in der Mailänder Ambrosiana befindet. In Salerno griffen interessanterweise weder Maurus von Salerno noch Matheus Platearius noch Petrus Musandinus oder Urso von Salerno, bekannte Exponenten der dortigen "Schule" (um vor bzw. nach 1200), auf den Canon zurück. Der Weg von Toledo in die civitas Hippocratica scheint in dieser Zeit, also in den ersten Jahrzehnten nach Gerhards Übersetzungswerk erstaunlich weit gewesen zu sein. Dagegen scheint, wie Chandelier herausfand, der Arzt Adam von Cremona in seinem Friedrich II. von Hohenstaufen gewidmeten Diätetikbuch für Reisende (1227) die Werke von Avicenna wie selbstverständlich erwähnt zu haben - die Überlieferungsgeschichte dieses Regimen peregrinantium ist allerdings umstritten, da das einzige erhaltene mittelalterliche Manuskript erst um 1400 entstanden ist.

Der Autor schildert die Rezeptionsgeschichte Avicennas in Italien in äußerst detaillierter Weise, ohne angesichts der vielfältigen Quellen und Rezeptionsstränge den Faden zu verlieren. Die eigentliche "institutionalisation" des Canon datiert er zwischen 1325 und 1348. Kaum ein bekannter italienischer Arzt des 13. und 14. Jahrhunderts, angefangen mit dem Bologneser Taddeo Alderotti und dessen später in Florenz lehrendem Schüler Dino del Garbo bis hin zu Gentile da Foligno (für Chandelier der principal commentateur), der nicht direkt, d. h. unter Nennung des Werks, oder indirekt - die Übergänge zu "Plagiaten" waren, ohne daß den Autoren eine böse Absicht unterstellt werden kann, in der Regel fließend - auf dieses Werk zurückgegriffen hätte. Die prominenteste Ausnahme war hier wohl Pietro d'Abano, die erste wirklich bedeutende Persönlichkeit der Paduaner Schule (dort tätig zwischen 1303 und 1315), der zu Avicenna schweigt, was Chandelier, ähnlich wie im Fall von Pietro Torrigiano, auf dessen Studium und Ausbildung als Philosoph und Arzt in Paris zurückführt. Dies schloss nicht aus, dass der Perser auch im Umfeld Paduas diskutiert wurde - Mondino da Cividale, ein weiterer bedeutender Arzt der Epoche, schloss hier 1316 jedenfalls seinen Kommentar zum Canon medicinae ab. Dass sich Pietro hierdurch in einen geradezu weltanschaulichen Gegensatz zur Mehrzahl seiner Kollegen setzte, zeigt die geharnischte Kritik des Dino del Garbo an Pietros Hauptwerk Conciliator differentiarum quae inter philosophos et medicos versantur, dem dennoch eine bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte (bis zur Drucklegung 1496 in Venedig) bevorstand.

Bemerkenswerterweise zeigt Chandelier in seiner elegant geschriebenen Arbeit, die auch Übersetzungen verdient, nicht nur die komplizierte Strukturierung des Canon auf, sondern erläutert auch die wesentlichen Inhalte. Er benützt dabei eine Fülle von "Kommentaren", die nach Erscheinen der lateinischen Version in Italien entstanden ist. An ihnen entzündete sich ein nicht unerheblicher Streit. Je nach Ausbildungsort bzw. biographischer Prägung der Koryphäen wurden bestimmte Teile des Canon überbewertet, andere dagegen vernachlässigt. Zu Recht fragt Chandelier, nach welchen Kriterien hier agiert wurde, ja ob bei der Einschätzung des Canon (bzw. bestimmter Bücher oder Abschnitte) überhaupt Freiheit herrschte (277f.). Dabei scheint nach Chandelier auch Averroes eine beachtliche Rolle gespielt zu haben, dessen von dem jüdischen Gelehrten Bonacosa im späten 13. Jahrhundert übersetztes Colliget - bis zu den medizinkritischen frühen Humanisten - den westlichen Medizindiskurs beeinflusste.

Chandelier beschränkt sich in seiner Studie keineswegs auf eine Rezeptionsgeschichte im Sinne chronologischer Aufreihungen einschlägiger Manuskripte. Der Leser wird in die schwierige Gedankenwelt Avicennas selbst eingeführt, die nicht zufällig, in der Tradition der Antike bzw. mittelalterlicher Philosophen, Kommentare notwendig machte. Affektenlehre, Fiebertheorie, Säftelehre, Pesttheorien und zahlreiche Hippokrates oder Galen zugeschriebene Thesen wurden nicht zuletzt auf der Basis der aristotelischen Kategorienlehre ausführlich diskutiert. Mit der großen Pest um 1348 war nach Chandelier die Rezeptionsgeschichte Avicennas im Westen zunächst abgeschlossen. Wer nun als Arzt bzw. ärztlicher Autor Renommee gewinnen wollte, musste den Canon kennen bzw. sich dessen Thesen stellen. Eine Auflistung der heute zur Verfügung stehenden Kommentar-Manuskripte samt Standorten sowie - in diesem Fall besonders wichtig - ein Namensregister runden das exzellente Buch ab.

Klaus Bergdolt