Claudia Hattendorff / Lisa Beißwanger (Hgg.): Augenzeugenschaft als Konzept. Konstruktionen von Wirklichkeit in Kunst und visueller Kultur seit 1800 (= Image; Bd. 146), Bielefeld: transcript 2019, 267 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-4608-5, EUR 39,99
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Das Problem kunsthistorische Konferenzen ist oftmals, dass zwar ein bestimmtes Thema vorgegeben wird, aber dasselbe von den Tagungsteilnehmern oftmals in einer gänzlich missverständlichen Weise interpretiert oder gar ignoriert wird. Genau dieses Bild vermittelt der Tagungsbericht "Augenzeugenschaft als Konzept", mit dem die beiden Herausgeberinnen, Claudia Hattendorff und Lisa Beißwanger, ein eigentlich sehr spannendes Thema aufgegriffen haben. Leider wurde das Thema nur vage definiert (18-21) und daran krankt das ganze Konzept des Bandes, denn Themen wie beispielsweise "das Portrait" (67-76), "Spiegel in der Kunst" (111-125) oder "topographischen Ansichten" (53-63) kann man nicht als "Augenzeugenschaft" begreifen. Fasst man das Thema so weit, so ist praktisch alles, was man in der visuellen Kultur als Betrachter wahrnimmt, eine "Augenzeugenschaft". Man hätte den Tagungsteilnehmern die Frage stellen können, ab wann man von einer wirklichen Augenzeugenschaft durch den Künstler in der visuellen Kultur sprechen kann und wie sich diese Methode im Laufe der Zeit weiterentwickelt hat. Aber diese Chance wurde vertan.
Es ist wohl jedem Historiker bewusst, dass die gezeichneten Schilderungen von außergewöhnlichen Ereignissen vor dem 19. Jahrhundert zu einem großen Teil künstliche Konstrukte sind, die eine Augenzeugenschaft nur suggerieren. Gut dargestellt wurde dies im Ausstellungskatalog "Entfesselte Natur" (2018) der Hamburger Kunsthalle. [1] Von einem der beiden Herausgeber des Katalogs, Jörg Trempler, stammt auch der einleitende Essay über die Authentizität von Katastrophenbilder des 18. Jahrhunderts (33-51), der zwar in groben Linien die Entwicklung der wichtigsten Etappen des dokumentarischen Bildes (Vesuv, Erdbeben in Lissabon usw) schildert, aber letztendlich ebenfalls zu stark vom Thema abschweift. So würde man die archäologischen Zeichnungen aus Pompeji oder die Gipsabgüsse von Opfern des Vulkanausbruchs nicht als "Augenzeugenschaft" begreifen. Richtig ist allerdings, dass graphische Serien mit der Darstellung antiker Ruinen in einem sehr begrenzten Maße die Darstellung von Naturkatastrophen im 18. Jahrhunderts inspiriert haben.
Ein Punkt, der gänzlich irritierend wirkt, ist die Ignoranz des Autors gegenüber der Funktion bestimmter Kunstgattungen. So sieht Trempler, offenbar noch ganz von der Gattungshierarchie des 19. Jahrhunderts geprägt, das Gemälde, spezifisch das Historienbild, an der Spitze der Entwicklung stehen und daher schließt sein Aufsatz mit den ersten Ölgemälden, in denen aktuelle Ereignisse in einer historisch richtigen und naturalistischen Weise dokumentiert wurden. Viel wichtiger wäre es allerdings gewesen herauszuarbeiten, dass die wesentlich verbesserten grafischen Techniken des 18. Jahrhunderts eine authentischere Darstellung des Zeitgeschehens erlaubten, zudem ermöglichten schnellere Kommunikationswege eine weite Verbreitung der aktuellen Bilder. Die Druckgraphik war bis in das 19. Jahrhundert das passende Medium, um eine direkte und aktuelle Beobachtung festhalten und verbreiten zu können. Die Malerei spielte in dieser Hinsicht nur eine Nebenrolle, da der Verbreitungsgrad dieses Medium sehr gering war und das große Publikum nicht erreicht wurde.
Ein neuartiger Aspekt der "Augenzeugenschaft" findet sich in einem Aufsatz von Wolfgang Brückle über die Wahrnehmung von Überwachungskameras und Google Street View (157-176). Es handelt sich hier bereits um Systeme, bei denen die Bilddokumente ohne Beihilfe des Menschen automatisch erzeugt werden und die teilweise automatisch von anderen Erfassungssystemen ausgewertet werden. Der Autor zieht jedoch daraus keine weitergehenden Schlussfolgerungen, sondern befasst sich mit der Frage, inwieweit Google Street View als Vorlage für künstlerische Arbeiten dienen kann. Wie wenig überzeugend das automatisch erzeugte Bild als Kunstwerk ist, zeigt das Beispiel einer Bildschirmfotografie aus Google Street View von Doug Richard (170). Diese Bildschirmfotografie zeigt eine Straßenszene in der Bronx. Die Aufnahme wirkt sogar ästhetisch, obwohl sie zufällig entstanden ist. Über die Atmosphäre und die gewaltsam aufgeladene Stimmung in manchen Straßen dieses New Yorker Stadtteils gibt das Bild keine Auskunft. Der zufällige Blick ist keine Augenzeugenschaft, sondern es wird vielmehr durch dieses Beispiel bezeugt, wie wenig kritische Reflexion in der Kunst des 21. Jahrhunderts vorhanden ist. Durch die Nachahmung eines zufällig von einer Maschine geschaffenen Bildes entsteht eben das vollkommene Nichts.
Gerade am Thema "Augenzeugenschaft" hätte man darstellen können, wie die Realität sowohl in der Kunst als auch von den modernen Massenmedien verformt wird und welche Mittel eingesetzt werden, um die ideologisch korrekte Realität zu erzeugen. In dem vorliegenden Tagungsbericht wurden aber gerade alle historisch wichtigen Gattungen der Kunst, in denen Augenzeugenschaft übermittelt wurde, ausgelassen (Darstellung historischer Ereignisse, Dokumentarfotografie, usw.). Selbst wenn man annimmt, dass die beiden Herausgeberinnen vorgehabt haben, nur über die Augenzeugenschaft in der zeitgenössischen Kunst und in den modernen Medien zu berichten, so hätte man das Thema wesentlich kritischer anpacken müssen.
Anmerkung:
[1] Entfesselte Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600. Ausstellungskatalog Kunsthalle Hamburg 2019.
Boris Röhrl