Rezension über:

Claudia Hattendorff: Die Suche nach der Nationaltradition in der französischen Malerei. Kunstliteratur und nationales Bewußtsein im 19. Jahrhundert (= Quellen zur Kunst; Bd. 22), Freiburg/Brsg.: Rombach 2004, 141 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-7930-9380-0, EUR 16,00
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Rezension von:
Hubertus Kohle
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Stefanie Lieb
Empfohlene Zitierweise:
Hubertus Kohle: Rezension von: Claudia Hattendorff: Die Suche nach der Nationaltradition in der französischen Malerei. Kunstliteratur und nationales Bewußtsein im 19. Jahrhundert, Freiburg/Brsg.: Rombach 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 10 [15.10.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/10/6143.html


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Claudia Hattendorff: Die Suche nach der Nationaltradition in der französischen Malerei

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Nationale Diskurse etablierten sich im 19. Jahrhundert auf vielen Ebenen. Dass auch die Kunstkritik und Kunstgeschichte daran beteiligt war, zeigt die Autorin des vorliegenden Bändchens. Es ist als 22. in einer von Norberto Gramaccini herausgegebenen Reihe erschienen, die sich den schriftlichen Quellen zur Kunst in ihrem mehr oder weniger vermittelten Zusammenspiel mit dieser widmet. Den Kenner wird das wenig verwundern, eindrücklich bleibt trotzdem die Leistung, eine hochkomplexe Quellenlage auf ihre nationalgeschichtlichen Implikationen befragt zu haben. Deutlich wird dabei insbesondere, dass das Problem, eine nationalfranzösische Tradition in der künstlerischen Überlieferung Frankreichs seit dem Mittelalter herauszudestillieren, nicht nur in den beiden zu Grunde gelegten Texten Charles Blancs und Ernest Chesneaus präsent war. Vielmehr durchzog es geradezu strukturbildend die Deutungen der meisten wichtigen Kritiker des 19. Jahrhunderts, egal, welcher künstlerischen Glaubensrichtung sie sich verpflichtet fühlten.

Programmgemäß aber stehen die beiden Texte aus den 1840er und den 1860er-Jahren im Mittelpunkt. Blanc, den meisten heute noch als Gründer der kürzlich dahingeschiedenen Gazette des Beaux-Arts und vielleicht auch noch als Verfasser einer "Grammaire des Arts du Dessin" in Erinnerung, sah im Gedanklichen, Geistigen und Geschichtlichen den Kern französischer Kunstübung und setzte dies von allem Materiellen und Fantastischen ab. Die Nähe zum bis heute gültigen Klischee vom cartesianisch-rationalistischen Nationalcharakter der Franzosen liegt auf der Hand. Formuliert sind diese Gedanken in einem Text über die Geschichte der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts, ein Beleg für die von der Autorin mehrfach geäußerte These, dass die Frage nach der Nationaltradition in der französischen Malerei ihren Ausgangspunkt immer in einer Reflexion über ihren gegenwärtigen Zustand nahm. Bei Blanc herrschte hier tiefes Ungenügen vor, glaubte er doch, dass die Romantik vom Pfad der Tugend abgelenkt habe. "Auf einmal seien Ausführung und Phantasie wichtige Faktoren der französischen Malerei geworden, und die französische Malerei habe dadurch ihr Profil eingebüßt" (98). Dass politische Progressivität nicht unbedingt mit ästhetischer einhergehen muss - Blanc war bekanntermaßen Sozialist und in den diversen republikanischen Kunstverwaltungen zwischen 1848 und 1871 an führender Stelle tätig - zeigen seine Vorschläge, wie dem Irrweg der Romantik zu entkommen und der Anschluss an die große Tradition Frankreichs wieder zu gewinnen sei: Er setzte auf Paul Delaroche und war idealistischen künstlerischen Richtungen aus nahe liegenden Gründen entschieden mehr zugewandt als realistischen.

Realistisch hingegen ist das Glaubensbekenntnis Chesneaus, der die gesamte französische Kunst seit ihren Anfängen für realitätsaffin hielt und vorübergehende Kehrtwendungen als kritikwürdigen Verrat an der nationalen Sache brandmarkte. Insbesondere Poussin hat bei ihm einen schweren Stand, während manche seiner Kollegen bedeutende Klimmzüge unternehmen mussten, das Französische dieses Künstlers im Angesicht seines freiwilligen römischen Exils herauszuarbeiten. Aber auch Chesneau reizte sein Plädoyer für den Realismus nicht so weit aus, dass er sich nun Radikalen wie Courbet angeschlossen hätte. Schon die Le Nains galten ihm als zu einseitig, seine zeitgenössischen Vorlieben lagen in einem Bereich, den Albert Boime als "offiziellen Realismus des zweiten Kaiserreiches" identifiziert hat, bei heute kaum mehr bekannten Kleinmeistern, die sich einer im weitesten Sinne sozialen Thematik annahmen. Diese Zurückhaltung Chesneaus kommt in dem vorliegenden Buch vielleicht ein wenig zu kurz, dafür mangelt es nicht an Hinweisen auf Autoren wie Castagnary und Champfleury, deren Vorliebe für Courbet, Millet und Rousseau aber vor dem Hintergrund des Gesamtspektrums als umso weniger repräsentativ zu gelten hat (etwa 111).

Zu Recht betrachtet die Autorin die von ihr analysierten Ansätze als Versuche einer Identitätsbildung, die sich in dem Moment aufdrängen, in dem sich die soziale Basis des Kunstpublikums verändert und verbreitert (88). Ob man zur Definition dieses Betrachterpublikums Crarys nicht eben sozialgeschichtlich ausgerichtetes (dafür aber zum guten Ton gehörendes) Buch "Techniken des Betrachters" zitieren sollte, scheint mir allerdings zweifelhaft. Richtig ist in jedem Fall der Hinweis auf den tendenziellen Konservatismus der untersuchten Textgattung, ist doch der Anschluss an bewährte Eigenheiten einer künstlerischen Richtung leichter als Kollektivmerkmal zu deuten als der revolutionäre Ausbruch aus ihr.

Die relative Eigenständigkeit des national geprägten Kunstdiskurses, dessen tendenziell willkürlicher Bezug zu den untersuchten künstlerischen Phänomenen, veranlasst die Autorin zusammenfassend zu einem ernüchternden Plädoyer: "Daß dies nur unter großem rhetorischen Aufwand und oft mit Ergebnissen zur Geschichte der Kunst möglich war, die heutiger Überprüfung kaum mehr standhalten, sagt Einiges, vielleicht Entscheidendes über die Natur der Kategorie des Nationalen in der Kunst aus." (133) Nichtsdestoweniger würden auch Lektüren heutiger populärer und selbst wissenschaftlicher Texte zur Geschichte der französischen Kunst die weiterhin geltende Fruchtbarkeit von analytischen Kategorien belegen, die im 19. Jahrhundert und schon davor erprobt wurden. Nicht in der Massivität, wie sie in den von der Autorin zu Grunde gelegten Texten Blancs und Chesneaus zum Ausdruck kommt, subtiler und versteckter, aber doch unverkennbar. Belegen ließe sich damit, dass die Gegenwart Teil hat an einer Bemühung, die künstlerische Vergangenheit nicht nur wertfrei zu deuten, sondern sie einzubinden in die Konstruktion eines sinnhaften historischen Verlaufes, auf den wir genauso wie die Interpreten der Vergangenheit angewiesen sind.

Hubertus Kohle