Anja Rasche / Nils Jörn: Reformation in Wismar. Personen - Orte - Objekte (= Schriftenreihe der Freunde und Förderer des Archivs der Hansestadt Wismar e.V.; Bd. 8), Wismar: callidus 2018, 214 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-940677-59-4, EUR 20,00
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Das Reformationsgedenkjahr 2017 ist kaum vorbei, da werfen schon die nächsten Jubiläen, 2021 zum Wormser Reichstag und 2022 zur Übersetzung des Neuen Testaments durch Luther, ihre Schatten voraus. Als Beitrag zum Reformationsjubiläum liegt nun die Publikation einer Feierschrift zur Reformation in Wismar vor. Wie im gesamten niederdeutschen Sprachraum setzte auch in Wismar die reformatorische Bewegung etwas später ein als in Oberdeutschland. Erste evangelische Predigten lassen sich 1524 nachweisen. 1526 reichte Hinrich Never erstmals den Laienkelch. Wie in vielen anderen Städten auch verhielt sich der Rat zunächst abwartend. 1532 wurde der evangelische Gottesdienst eingeführt und der Weltklerus ging zur Reformation über. Endgültig vollzogen wurde der Übergang zur Reformation mit der Einführung der Reformation im Herzogtum Mecklenburg auf dem Landtag in Sternberg 1549.
Das Buch über die Reformation in Wismar ist nicht in traditioneller Form chronologisch gegliedert, sondern versucht sich durch die Behandlung von Schlaglichtern dem Thema zu nähern. In vier großen Kapiteln "Wismar vor der Reformation", "Reformation - Orte und Personen", "Veränderungsprozesse" und schließlich "Ausblick und Gedenken" werden die verschiedenen Themen abgehandelt. Die Verquickung von sachlicher und chronologischer Herangehensweise macht es dem Leser nicht leicht, den roten Faden zu behalten. Eine Vielzahl von Wiederholungen ist die Folge. Eine Zeittafel zum Schluss des Buches fängt diese Herangehensweise etwas auf. In den Überschriften der einzelnen Abschnitte werden Fragen gestellt ("Wirkt Abschreckung gegen Sünde?", "Wie reformbedürftig war die Kirche in Wismar um 1500?"), auf die keine Antworten gegeben werden. Wohl aufgrund dieser Herangehensweise bleiben zentrale Fragen der Reformationsgeschichte unberücksichtigt: So findet sich kein Wort zur Verbreitung humanistischer Ideen in Wismar. Immerhin wird das Titelblatt einer Thucydides-Ausgabe abgebildet, die allerdings fälschlicherweise als Griechisch-Lehrbuch bezeichnet wird (190). Vielleicht gab es in Wismar Gelehrte, die sich mit Griechischstudien beschäftigten? Es fehlen Ausführungen zu den Trägerschichten der Reformation: Welche Rolle spielten die verschiedenen Sozialgruppen bei der Einführung der Reformation? Wie war die Wirtschaftsverfassung in Wismar gestaltet? Völlig unbehandelt bleibt auch das Schulwesen vor und nach der Reformation, ebenso wie das landesherrliche Kirchenregiment. Es fehlen Informationen zum Armenwesen, zur Neuorganisation der Kirche, Kirchenordnungen, Agenden, Gottesdienstreformen. Was ist mit den Klosterbibliotheken geschehen, mit den vorreformatorischen Büchersammlungen an den Stadtkirchen, mit den kirchlichen Archiven? Lang und breit werden vorreformatorische Altarbilder vorgestellt, die gar nicht aus Wismar stammen (27-33), im Gegenzug gibt es aber keine Aussagen zur Kirchenmusik, zu liturgischen Neuerungen. War die Liturgie in den evangelischen Kirchen Wismars eher traditionell orientiert oder eben nicht?
Das Buch ist inhaltlich wie sprachlich an ein breites, nicht-wissenschaftliches Publikum gerichtet, dem eine eklektische Sammlung von Einzelbeobachtungen in einem Sprachduktus vorgesetzt wird, mit dem man Kinder ansprechen würde. Nun kann man über die Infantilisierung der Leserinnen und Leser denken, wie man mag, aber inhaltlich ist das Buch völlig misslungen. Es strotzt vor Fehlern, mehr oder weniger sinnlosen Spekulationen und zeigt in vielfältiger Weise Wissenslücken. Es gibt beispielsweise sinnlose Spekulationen über die Verbreitung des römischen Rechts (21). Konkret sind die Abschnitte, in denen es um Theologie, Reformation oder Buchhandel geht, teilweise abstrus falsch.
So sei das Reich 1512 in zehn Reichskreise unterteilt worden (was nicht gut formuliert ist, da die Reichskreise schon 1500 eingeführt wurden, 1512 wurde nur die Zahl der Reichskreise erhöht), um das Reich "regierbar zu machen". (13) Ist das Reich vorher nicht regiert worden? Nur nebenbei hatten die Kreise keine Regierungs-, sondern Exekutionsaufgaben. Auch der oftmals heißgeliebte Versuch, Kontinuität zwischen gestern und heute herzustellen, fällt nicht wirklich überzeugend aus: "In diese Jahre zwischen 1522 und 1532 fällt die Geburtsstunde unserer heutigen Bürgerschaft." (69) Was danach über Gewaltenteilung gesagt wird, sollte man am besten verschweigen. Dieser Geschichtsklitterung ist das berühmte Wort von Thomas Nipperdey entgegenzuhalten: "Am Anfang war Napoleon."
Angeblich hätten sich alle europäischen Mächte gegen die Osmanen zusammengeschlossen (151). Explizit werden sogar die französischen Könige genannt. Dabei gibt es sogar einen Wikipedia-Artikel zum Thema "Französisch-osmanisches Bündnis". Erschütternd sind auch die Aussagen zur Politik der mecklenburgischen Herzöge im 16. Jahrhundert. Zunächst wird beklagt, dass die Herzöge für ihre politischen Ambitionen die Gewinne aus der Säkularisierung des Kirchengutes verschleudert hätten, um dann resignierend festzustellen: "... natürlich hätte man mit dem Geld aus Wismars geistlichen Einrichtungen auch viel für die Stadt und die Verbesserung ihrer Infrastruktur, für ihre Armen und andere Bedürftige tun können, aber wenn man Träume hat, soll man die auch leben, vor allem als mecklenburgischer Herzog, der wie seine Ahnen in früheren Jahrhunderten gerne König in Skandinavien geworden wäre." (97) Da fällt einem nichts mehr ein.
Bei Themen, die sich um Buchdruck und Buchhandel drehen, fehlen Grundkenntnisse. "Allerdings sind auch mehrere Exemplare eines Einblattholzschnittes von 1517 mit den 95 Thesen erhalten." (7) Natürlich sind die beiden bekannten Plakatdruckausgaben der 95 Thesen typographische Drucke und keine Blockdrucke. Grotesk wird es bei der Behandlung von Leichenpredigten: "Man ging allgemein davon aus, daß es für Kinder nur vorteilhaft sein könne, die Lebensgeschichten berühmter Vorfahren zu kennen und sich daran zu orientieren ..., um aus ihrem Leben zu lernen, ihre Erfolgsgeschichte nachzuleben." (119) Wer ist "man"? Was ist gemeint mit "die gesamte Leichenpredigt mit kompletter Predigt" (129)? Und angeblich soll es in Wismar einen "Markt" für Leichenpredigten gegeben haben. (129) Leichenpredigten waren immer Auftragsarbeiten. Sie waren nicht Teil des Buchhandels. Und über den Erfolg des Autors Luther findet sich die Aussage: "Seine Werke waren stark nachgefragt und verkauften sich über die Reichsgrenzen hinaus auch im Ausland sehr gut." (123) Welches Ausland ist damit gemeint? In Frankreich, Italien oder Spanien waren Luthers Werke mitnichten Kassenschlager (schon wegen der Sprache). Selbst in den skandinavischen Ländern sind Lutherdrucke eher selten.
Sind alle diese Ausführungen schon schlimm, so bewahrheitet sich doch der Satz, dass es immer noch schlimmer werden kann, und zwar, wenn es um Kirche und Theologie geht. Einige Beispiele: "In Wismar wurden Anhänger der Täuferbewegung geduldet, insbesondere Calvinisten und Mennoniten." (85) Die Größe von Abendmahlskelchen wird von der Gabe des Laienkelchs abhängig gemacht (85). "Neugeborene sollten spätestens drei Tage nach der Geburt getauft werden, bei der hohen Säuglingssterblichkeit die einzige Möglichkeit, auch diesen Kindern den Weg zu Gott und ins Paradies zu eröffnen." (147) Einen solchen Satz kann nur schreiben, wer noch nie einen Text von Luther oder irgendeines anderen Reformators gelesen hat. "Früher hatten sie [die Dominikaner] in ihrem eindrucksvollen Kloster an der Stadtmauer gelebt, zahlreiche Bauern im Umland arbeiteten für sie ..." (59). Hier wurden Dominikaner mit Benediktinern verwechselt. Die Dominikaner hießen nicht wegen ihres Wappens "Hunde des Herrn" (59), sondern wegen der Ableitung ihres Namens als "domini canes" ("Spürhunde des Herrn") und ihrer Beteiligung an der Ketzerverfolgung. "Bis zur Reformation herrschte der von der Kardinalskurie gewählte Papst in Rom natürlich auch über Wismar, nach der Reformation entstanden Landeskirchen ..." (13) Bei der Besprechung von Hans Memlings "Jüngstem Gericht" ist zu lesen: "Mit der Waage entscheidet der Erzengel Michael über den Weg [ins Paradies oder in die Hölle]." (33)
Nun aber zum Höhepunkt des Buches: Die menschlichen Verfehlungen seien trotz der staatlichen Verbote nicht aus der Welt verschwunden. "Und das, obwohl die lutherische Kirche eben auch als moralische Anstalt und Stätte der Erziehung galt - Aufgaben, die heute längst RTL 2 und die Homeshopping-Kanäle übernommen haben, mit beeindruckenden Ergebnissen." (149) So erklärt sich wohl auch dieses Buch.
Thomas Fuchs