Wolfgang Huschner / Theo Kölzer / Marie Ulrike Jaros (Hgg.): Herrscherurkunden für Empfänger in Lotharingien, Oberitalien und Sachsen (9.-12. Jahrhundert). I diplomi dei sovrani per i destinatari in Lotaringia, Italia settentrionale e Sassonia (secoli IX-XII) (= Italia Regia. Fonti e ricerche per la storia medievale; 2), Leipzig: Eudora-Verlag 2020, 416 S., 57 s/w-Abb., 18 Tbl.,eine Kt., ISBN 978-3-938533-43-7, EUR 89,00
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Nachdem die erste Publikation der Reihe "Italia Regia" Herrscherurkunden für Empfänger in der Toskana in den Blick genommen hatte [1], behandelt der zweite, großformatige (24 x 32 cm) und mit zahlreichen Abbildungen (57) und Tabellen (18) versehene Band früh- und hochmittelalterliche Diplome für Destinatäre in Oberitalien, Lotharingien und Sachsen. Das Sammelwerk geht auf eine von Wolfgang Huschner und Theo Kölzer organisierte Tagung zurück, die im Oktober 2011 im Landeshauptarchiv (heute: Landesarchiv) Magdeburg unter Beteiligung von Fachleuten aus sechs europäischen Ländern stattfand.
In der Einleitung in deutscher und italienischer Sprache erläutern Wolfgang Huschner, Theo Kölzer und Marie Ulrike Jaros die Konzeption sowie die Erkenntnisziele des Bandes. In Anlehnung an die jüngere diplomatische Forschung begreifen sie Herrscherurkunden als "Ergebnisse von Verhandlungen zwischen der Empfänger- und Ausstellerseite, an denen auch Vermittler beteiligt sein konnten" (7, 21). Den allgemeinen Rahmen des Werkes bilden die drei Fragen (a) nach den Entstehungsstufen und Merkmalen, welche den Verhandlungsprozess widerspiegeln, (b) nach den Funktionen, welche die Diplome in der Zeit ihrer Entstehung erfüllten, sowie (c) nach der Relevanz der äußeren und inneren Merkmale im Hinblick auf die unterschiedlichen Funktionen der Diplome. Besondere Aufmerksamkeit möchte das Sammelwerk den Beurkundungssituationen (Herrscher- und Personalwechsel, Rangerhöhungen, gefährdete Königs- und Fürstenherrschaft) und deren Konsequenzen für die graphische und textuelle Gestaltung der Diplome schenken. Um dies zu erreichen, entwickelten die Herausgeber einen detaillierten Fragenkatalog, der auf die Herausarbeitung von Entstehungsgeschichte und Bedeutungsspektrum der Urkunden abzielt und als allgemeine Referenz für die einzelnen Beiträge dient (11, 25).
Das Werk ist in drei Sektionen gegliedert, wobei jede einem geographischen Schwerpunkt entspricht. Dem lotharingischen Raum sind acht (39-164) Studien gewidmet, Oberitalien zehn (167-298), Sachsen fünf (301-378). In der Unmöglichkeit, auf die Ergebnisse aller 23 Beiträge im Detail einzugehen, sollen im Folgenden einige aus Sicht des Rezensenten besonders relevante Resultate des Sammelbandes resümiert werden.
Allgemeine Ergebnisse. Es fällt bei der Lektüre der Beiträge zunächst ins Auge, dass einige der in der Einleitung formulierten Leitfragen sich nur in wenigen Fällen beantworten oder überhaupt erörtern lassen. Über die politische Situation, in der Verhandlungen und Urkundenausstellung erfolgten, ist man nur selten unterrichtet. Die genaue Reihenfolge, in der die einzelnen Elemente eines Diploms ausgeführt wurden, lässt sich bis auf wenige Ausnahmen nicht eruieren. Ob die Übergabe des Diploms im Rahmen einer Versammlung oder eines Gottesdienstes und in ritueller Form stattfand, muss meistens dahingestellt bleiben. Ähnliches gilt für die Frage nach dem Nachleben der Diplome jenseits ihrer Funktion als Vorurkunden. Der Umstand, dass auf die genannten Aspekte nicht in jedem Beitrag eingegangen wird, ist nicht zwingend als ein Manko der vorliegenden Publikation einzustufen, sondern er deutet auf die Schwierigkeiten hin, derartigen Fragen systematisch nachzugehen und die Antworten als Grundlagen für ein Modell zu nutzen, das über den Einzelfall hinaus Geltung beansprucht. Als umso bedeutender sind einige von den Autorinnen und Autoren des Bandes hervorgebrachte Ergebnisse einzuschätzen.
So zeigt Theo Kölzer, dass die Mönche von St. Maximin die missliche Lage eines Herrschers ganz pragmatisch zu nutzen wussten, um Empfängerausfertigungen besiegeln zu lassen (D H IV. 465, DD H V. 186, 279). Unter Heranziehung des Liber Aureus sowie des Libellus de libertate Epternacensi kann Michel Margue die Entstehungssituation eines wichtigen Diploms Heinrichs VI. für das Kloster Echternach vom August 1192 überzeugend rekonstruieren. Sehr geschickt handelte auch Patriarch Sighard von Aquileia, der DD H IV. 293, 295 und 296 genau zum richtigen Zeitpunkt erwirkte, nämlich nach der Erhebung Rudolfs von Rheinfelden zum Gegenkönig, wie Reinhard Härtel hervorhebt. Die graphische Ausführung zweier Exemplare von D Ko II. 208 für die Ravennater Kirche vermag Antonella Ghignoli mithilfe einer soliden Analyse der Originale bis ins Detail aufzuzeichnen.
In Bezug auf andere Leitfragen ist eine ausführlichere Erörterung nicht nur punktuell festzustellen. So thematisieren fast alle Beiträge den Anteil der Empfänger an der graphischen und inhaltlichen Gestaltung der Diplome. Die Ergebnisse fallen diesbezüglich unterschiedlich aus: Die allermeisten Herrscherurkunden für die Bischofskirche von Cambrai entstanden in der Kanzlei (so Benoît-Michel Tock). Ein Viertel der Diplome für St. Maximin klassifiziert Theo Kölzer als Empfängerausfertigungen. In Lüttich beläuft sich laut der Studie von Alexis Wilkin der Anteil der von den Destinatären hergestellten Diplome auf 37%. Die Anzahl der Empfängerausfertigungen nähert sich an oder überschreitet die Hälfte der Diplomüberlieferung, wenn man sich mit südalpinen Beständen auseinandersetzt, wie die Studien von Karina Viehmann, Marie Ulrike Jaros und Sebastian Roebert zeigen. Ein wichtiger Befund ist, dass im Laufe des 12. Jahrhunderts, spätestens in der Stauferzeit, die Beteiligung der Bittsteller an der Anfertigung von Herrscherurkunden überall zurückging, was auch für regelrechte Diplomwerkstätten wie Parma oder Reggio gilt.
Methodische Überlegungen. Eine Stärke des Bandes besteht darin, dass er nicht nur Ergebnisse, sondern auch weiterführende methodische Impulse liefert. Der in der Einleitung präsentierte Fragenkatalog wird trotz der angesprochenen Schwierigkeiten im Rahmen von künftigen diplomatischen Forschungen sicherlich Anwendung finden. Besonders anregend ist das Plädoyer von Michel Margue für eine "integrierte Diplomatik", die nicht nur die Diplomüberlieferung, sondern auch die gesamte Schriftproduktion des Empfängers einbeziehe. Zum Nachdenken regen auch die Überlegungen von Theo Kölzer an, der - wie bereits in früheren Studien - die rechtliche Dimension eines jeden Diploms betont und Kommunikation, Ritual und Propaganda eher als Akzidentia betrachtet.
Spezielle Funde. Abschließend sei auf einige besondere Ergebnisse oder Interpretationsvorschläge aufmerksam gemacht, welche etablierte Positionen der Diplomatik widersprechen oder diese infrage stellen. So weicht Francesco Roberg vom Urteil des MGH-Editors Theodor Schieffer teilweise ab und sieht in D Zwent 20 eine auf Betreiben Erzbischof Ratbolds von Trier realisierte Neuausfertigung von D Zwent 21, das den stilistischen und graphischen Ansprüchen des Empfängers nicht entsprochen habe. Im Gegensatz zu Harry Bresslau deutet Antonella Ghignoli das in London aufbewahrte D Ko II. 208b für die Erzbischofskirche von Ravenna als die ältere, vom Hofnotar Hugo A konzipierte und graphisch ausgeführte Fassung des Diploms, wodurch Konrad II. Erzbischof Gebhard u.a. die Grafschaft Faenza übertrug. D Ko II. 208a betrachtet sie hingegen als eine im Umfeld der Kanzlei angefertigte copia imitativa. In Abweichung von der bisherigen Forschung hält Karina Viehmann es für möglich, dass die Bischöfe von Parma schon sehr früh die stadtherrliche Stellung genossen, die gewöhnlich erst für die Zeit nach 962 angenommen wird. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit, das Urteil der älteren Diplomatik, vor allem von Cesare Manaresi und Olivier Guyotjeannin, zu revidieren, die einen Großteil der vorottonischen Herrscherdiplome für Parma als interpoliert oder falsch deklarierte. Wolfgang Huschner - um einen letzten "speziellen Fund" zu erwähnen - interpretiert das ab Heinrich III. belegte signum speciale nicht als ein auf Wunsch des Herrschers entwickeltes Sonderzeichen - so Paul F. Kehr und Peter Rück -, sondern als eine Kreation des Bischofs Bruno von Würzburg, dem ähnlich wie dem Kaiser der Marienkult besonders am Herzen lag.
Die Bewertung des Werkes fällt durchaus positiv aus. Obwohl einige Autoren Thesen wiederaufgreifen, die bereits im Rahmen von anderen Publikationen präsentiert worden sind, lässt sich die Qualität der gesammelten Studien als sehr hoch einstufen. Nochmal hervorgehoben seien die vielen neuen Funde und methodischen Impulse, auf denen künftige Forschungen sicherlich aufbauen werden. Einige wenige Tipp- und Flüchtigkeitsfehler (so z.B. auf 11 "die anonymen Gesta ..., in der" statt "in denen", oder auf 13 "Heinrich V" statt "Heinrich V.") sowie typographische Ungenauigkeiten (im gesamten Beitrag von Tock ist die Überschrift in der Kopfzeile falsch) fallen nicht ins Gewicht. Vor einiger Zeit wurde eine irreversible Krise der diplomatischen Forschung diagnostiziert. Der vorliegende Sammelband spricht eher für eine Disziplin in bester Verfassung!
Anmerkung:
[1] François Bougard / Antonella Ghignoli / Wolfgang Huschner: Europäische Herrscher und die Toskana im Spiegel der urkundlichen Überlieferung = I sovrani europei e la Toscana nel riflesso della tradizione documentaria (800-1100) (= Italia Regia. Fonti e ricerche per la storia medievale; 1), Berlin / Leipzig 2015.
Étienne Doublier