Delphine Horvilleur: Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. Übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis, München: Carl Hanser Verlag 2020, 140 S., ISBN 978-3-446-26596-7, EUR 18,00
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Das Buch ist kein historisches, aber von großer Relevanz für die Geschichte des Antisemitismus. Die liberale französische Rabbinerin, Delphine Horvilleur, liefert eine religionsphilosophische und psychoanalytische Reflexion über die Entstehung und die Aktualität des Antisemitismus sowie dessen Verhältnis zu anderen Ressentiments.
Bereits der Titel "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus" spielt auf Jean-Paul Sartres "Überlegungen zur Judenfrage" an, denen auch eines der einleitenden Zitate entnommen ist. Das 1944 geschriebene und zwei Jahre später veröffentlichte Werk stellt eine der frühesten Auseinandersetzungen mit der Judenfeindschaft nach der Shoah dar. Sartre sucht die Gründe für die Judenfeindschaft nicht im Judentum oder bei den Juden, sondern stellt den Antisemiten in den Mittelpunkt. Er möchte dem Hass auf den Grund gehen und das Denken, Handeln, Fühlen von Antisemiten verstehen. Horvilleur folgt dem französischen Philosophen darin, dass sie den Judenhass nicht von den Juden ausgehend denkt, sondern vom Antisemiten her begreifen will. Hierfür wählt sie einen interessanten Zugriff. Sie widmet sich der theologischen Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus im Talmud, also der Frage, wie die Judenfeindschaft theologisch beschrieben wird.
Das von Nicola Denis aus dem Französischen übersetzte Buch gliedert sich in fünf Kapitel. Zunächst grenzt die Autorin im Prolog den Antisemitismus von anderen Ressentiments ab. Seine Spezifik bestehe darin, dass die Juden dafür gehasst würden, was sie in der Vorstellung des Antisemiten besitzen, also Geld, Macht, Privilegien, Einfluss, etc. Die Rassisten hassen andere Menschen dafür, was sie nicht haben, also eine gewisse Hautfarbe oder eine bestimmte Lebensweise. Die Juden verkörperten folglich etwas Überschüssiges und vermittelten den Antisemiten das Gefühl, betrogen worden zu sein: "Die Juden sind immer ein bisschen zu ähnlich und immer ein bisschen zu anders." (16)
Die Antisemiten würden zwanghaft den jüdischen Einfluss aufspüren. Als Beispiel nennt die Autorin die Vervollständigungsfunktion beim Google Algorithmus in Frankreich. Bis zum gerichtlichen Verbot 2012 habe die Suchmaschine bei so unterschiedlichen Personen wie François Hollande oder George Clooney automatisch den Begriff Jude vorgeschlagen. Den Ursprung dieses Hasses zu erkunden, ist das Ziel des Buches.
Im ersten Kapitel arbeitet Horvilleur die Leitmotive des antijüdischen Furors anhand theologischer Quellen heraus. Obgleich der Antisemitismus seinen Ursprung nicht bei den Juden, sondern bei den Antisemiten habe, sei diese Perspektive erkenntnisträchtig. Die rabbinische Literatur ermögliche eine "originelle Lesart von der Psyche des Unterdrückers aus der Perspektive der schutzbedürftigen Verletzlichen." (20) Sie befasst sich etwa mit den Geschichten aus dem Buch Esther, der Figur des Esau und des Amalek. Eine Untersuchung dieser Quellen offenbare die jüdische Nicht-Identität. Bereits der Name der Hebräer verweise auf den Bruch mit der Herkunft. Die Identität des Volkes Israel ergebe sich aus der Nicht-Identität mit ihrem Herkunftsort, Jerusalem. Dieser am Anfang stehende Bruch unterscheide die Juden von anderen Völkern und erzeuge seit biblischen Zeiten immer wieder Hass. Der Jude sei so dreist, sich von seiner Herkunft zu distanzieren, statt mit der Gruppe oder der eigenen Herkunft eins zu sein. Der Antisemit rede sich ein, dass der Jude für immer mehr sei als er selbst. Diese Annahme sei schwer zu ertragen.
Im zweiten Kapitel beschreibt die Autorin den Antisemitismus als Zivilisationskampf. Die Juden seien immer wieder von der Vernichtung bedroht gewesen, wie sie unter anderem am Beispiel der Festung Massada beschreibt. Häufig seien die Juden als Bedrohung, als Kontaminationsquelle für den eigenen Organismus wahrgenommen worden. Dieses Bild von den Juden als Infektionsquelle hätten die Antisemiten immer wieder bedient: "Der Jude verhindert jede klare Grenzziehung, verwischt, verschleiert und verletzt. Er bildet ein Loch oder ein Geschwür." (59) Seine bloße Anwesenheit erinnere an die Unmöglichkeit der Unversehrtheit. Die Juden würden verdächtigt, die Grenzen durchlässig zu machen, dem Kollektiv eine Schwachstelle zufügen: "Der Jude ist abgetrennt und erinnert an all das, was sich in unserer Welt sonst noch in diesem Zustand befindet. Um sich von der eigenen Unvollkommenheit zu trennen, erklärt man ihn für schuldig." (64)
Bereits im Buch Esther würden die Motive von Kastration und Antisemitismus parallel auftauchen. Ohnehin bestehe eine enge Verbindung zwischen Misogynie und Judenfeindschaft, die Horveilleur im nächsten Kapitel ausführlich behandelt. Die Antisemiten würden jüdische Männer oft als schwach und effeminisiert beschreiben. Die Jüdin hingegen erscheine als emanzipierte Frau. Bereits Tacitus habe generell die Juden als lüsternes Volk dargestellt, das ungezügelten Sitten fröne. Die Antisemiten projizierten ihre verdrängten Triebe auf die Juden, um sich beide vom Hals zu schaffen. Der Jude als entmännlichter Mann bedrohe die physische und psychologische Integrität des Männlichen und damit die Integrität der Nation oder Gruppe. Dieses Motiv tauche im Antisemitismus obsessiv auf.
Die jüdischen Bräuche, besonders die Beschneidung, lebten von der Idee der identitätsstiftenden Schwachstelle. Insofern sei das rabbinische Denken ein posttraumatisches. Der Jude "erinnert an die identitäre Schwachstelle, an den Seinsmangel und an alles, was seinen Gegner daran zu hindern scheint, ganz er selbst zu werden." (93)
Die Antisemiten hielten den Juden häufig ihr Auserwähltsein vor. Dieser Vorwurf erwecke ihren Zorn, wofür sie dann eine demokratische Legitimation suchten, wie die Autorin im nächsten Kapitel "Antisemitismus als Wahlkampf" ausführt. Im Judentum selbst gestalte sich der Bund mit Gott viel ambivalenter. Im Buch Amos werde diese Verbindung deutlich relativiert. Insofern sei die spezifische Beziehung des Volkes Israel zu Gott nicht leicht zu analysieren. Gott habe den Bund zunächst anderen Völkern angetragen, weswegen die Juden ständig ihr Auserwähltsein hinterfragen. Im Gegensatz zu ihnen hegt der Antisemit daran keinen Zweifel. Der Vorwurf des Auserwähltseins fördere das Zerrbild des arroganten und machtbewussten Juden. Dieser verweigere sich der Gesamtheit, dem Kollektiv. Er raune der Welt zu, dass die Wahrheit nie die ganze Wahrheit sei. Sie sei stets fragmentiert oder korrumpiert. Der Antisemit erschafft sich über die Ausgrenzung der Juden: "Antisemitismus konstruiert sich stets als Ganzheitsangst und als Ganzheitstraum, der den Juden als Ausnahme erscheinen lassen will." (110)
In der Gegenwart treffe dieser Hass auf das Andere auch den jüdischen Staat. Israel erscheint als die störende Ausnahme, als Fremdkörper in der harmonischen Ganzheit. Die Juden verkörperten als Individuen wie als Staat das Trennende. Deshalb werde in Umfragen Israel immer wieder als die größte Gefahr für Weltfrieden genannt. Dieses "Mikro Volk" und "Mikro Gebiet" entfache völlig unverhältnismäßig oft leidenschaftliche Debatten auf der internationalen Ebene. Der Zionismus werde ausschließlich als System kolonialer Unterdrückung gesehen und Israel werde weniger seine Politik als seine Existenz vorgeworfen. Einzelne Motive der obsessiven Israelkritik wiesen starke Anklänge an den traditionellen Diskurs des Antisemitismus auf. Besonders deutlich zeige sich diese Tendenz im postkolonialen Denken und in der identitätspolitischen Debatte. In diesen Diskursen erblickt Horvilleur eine regelrechte Umwertung der aufklärerischen Werte von Würde und Autonomie des Subjekts. Der Einzelne werde auf die Geschichte seiner Gruppe reduziert, auf seine Stammeszugehörigkeit. Dieser Reinheitswahn vereine völlig unterschiedliche Richtungen: Linke, Rechte und Islamisten.
Auch wenn die Autorin mit Sartre übereinstimmt, dass der Jude das Produkt des antisemitischen Blicks sei, schließt sie ihren Essay mit einer Reflexion auf die jüdische Identität. Dabei billigt sie sowohl Israel und als auch der Diaspora einen legitimen Platz zu. Allerdings sei die jüdische Identität nicht greifbar, fluide, gebrochen. Identität sei nur als Summe vielfältiger Zugehörigkeiten zu beschreiben: "Und womöglich ist genau dieses Unsagbare die beste Definition, die ich zu geben vermag, eine authentische, unmögliche Umschreibung des Jude- und Ich-selbst-Seins." (132)
Horvilleur macht deutlich, wie erkenntnisträchtig die religionsphilosophische und die psychoanalytische Reflexion ist, um den antisemitischen Hass zu verstehen. Dieses tiefsitzende Gefühl, seine Massivität und seine Brutalität können mit einer rein historischen Herangehensweise nur unvollständig begriffen werden. Das Buch führt dem Leser und der Leserin vor Augen, wie wichtig die Psychoanalyse und die Religionsphilosophie sind, um die Persistenz der Judenfeindschaft zu erfassen. Derartigen Erkenntnissen sollte sich die Geschichtswissenschaft stärker zuwenden.
Sebastian Voigt