Lars Lehmann: "Das Europa der Universitäten". Die Europäische Rektorenkonferenz und die internationale Politik 1955-1975 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 127), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021, VII + 284 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-071968-0, EUR 39,95
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Emmanuel Macron war nicht der erste, der auf die Universitäten gesetzt hat, um den Europäisierungsprozess zu stärken. Schon die Einigungsbemühungen am Beginn des europäischen Einigungsprozesses richteten sich auch an die Hochschulen und waren nicht allein auf Wirtschaft, Verteidigung und Diplomatie konzentriert. Hierauf lenkt Lars Lehmann den Blick in seiner Berliner Dissertation "Das Europa der Universitäten". Geknüpft an die Geschichte der Europäischen Rektorenkonferenz (ERK) folgt er dem verschlungenen Weg der europäischen Hochschulpolitik bis in die Mitte der 1970er-Jahre. Die Akten der ERK aufgespürt und als erster systematisch bearbeitet zu haben, ist bereits als Verdienst hervorzuheben. Lehmann fragt dabei zunächst nach den Zielen und Motiven der Hochschulrektoren, auf europäischer Ebene die Zusammenarbeit zu suchen, dann nach dem wechselseitigen Einfluss von Hochschulrektoren auf europäische politische Entscheidungen und umgekehrt dem Einfluss von Europapolitik auf die Hochschulen, sowie schließlich nach den universitären Selbstbildern, den Zielen und Argumenten der Rektoren. Seine zentrale These lautet dabei, dass die Universitäten sich europäischen Integrationsbemühungen, die von politischer Seite an sie herangetragen wurden, lange widersetzten und stattdessen ihre jeweiligen nationalen Traditionen verteidigten. Die ERK sei daher als Instrument im Abwehrkampf gegen politische Vereinheitlichungsbemühungen gegründet worden. Insbesondere die deutschen Rektoren witterten politische Einflussnahme und eine Beschneidung ihrer Selbstverwaltungsrechte. Mit der ERK wollten die Hochschulen einen Akteur schaffen, der im politischen Brüssel für sie sprechen konnte. Seit Mitte der 1960er-Jahre habe die ERK ihre nationalkonservative Haltung dann allmählich aufgegeben und sei dazu übergegangen, europäische Hochschulpolitik mitzugestalten.
Lehmann sieht seine Studie auch als Beitrag, die von Kiran Klaus Patel erhobene Forderung einzulösen [1], in der Europageschichte nicht nur auf die Europäische Union und ihre Vorläuferorganisationen zu schauen und neben staatlichen Repräsentanten auch gesellschaftliche Akteure mit einzubeziehen.
Er beginnt mit einem Rückblick auf die Einbettung von Universitäten und Wissenschaft in politische Entwicklungen und weist damit auf das politische Gewicht von Wissenschaft hin. Seit dem 19. Jahrhundert habe es bürokratische und organisatorische Nationalisierungstendenzen gegeben, während zwischen den Wissenschaftlern gleichzeitig die internationale Zusammenarbeit zugenommen habe und erst durch die Weltkriege des 20. Jahrhunderts vorläufig beendet worden sei. Vor dieser Folie wird die Dynamik internationaler Zusammenarbeit skizziert, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzte, allerdings am Eisernen Vorhang endete.
Bereits in der Frühphase des europäischen Einigungsprozesses wurde demnach von politischen Akteuren angestrebt, Wissenschaft und universitäre Bildung als Vehikel zu nutzen, um die Europäisierung auch gesellschaftlich zu verankern. Die Initiativen des Europarates bewegten sich dabei seinen Leitlinien gemäß noch im intergouvernementalen Rahmen. Etwa durch die gegenseitige Anerkennung von Bildungsabschlüssen, zu der sich die Mitgliedsstaaten in mehreren Konventionen in den 1950er-Jahren verpflichteten. Weitergehende Versuche, im Rahmen der Westeuropäischen Union eine Kooperation der europäischen Universitäten zu initiieren, stießen auf Skepsis und Misstrauen in den angesprochenen Universitäten. Noch größer war die Ablehnung der Pläne für eine supranationale Universität, die Walter Hallstein 1955 auf der Konferenz von Messina vortrug und im Euratom-Vertrag verankerte. Das Projekt sollte wissenschaftliche und wirtschaftliche Vorteile bringen und die europäische Idee in den Gesellschaften der Einzelstaaten befördern.
Gegen solche Pläne wehrten sich die Hochschulrektoren. Sie sahen darin eine Indienstnahme für politische Zwecke und pochten stattdessen auf ihre jeweiligen - in der Regel nationalstaatlichen - Traditionen und ihre Autonomie, ihre Unabhängigkeit von Staat und Politik. In einer europäischen Universität fürchteten sie zudem die mögliche Konkurrenz, die als Eliteinstitut zu einem Bedeutungsverlust der nationalen Universitäten führen könne.
Die Europäische Rektorenkonferenz war daher bei ihrer Gründung 1959 ein Defensivbündnis gegen politische Bestrebungen einer Europäisierung des Hochschulwesens, das vor allem von den französischen und deutschen Rektoren getragen wurde. Als politikunabhängiges Gremium sollte die ERK die Möglichkeit des Erfahrungsaustausches zwischen den Hochschulleitungen erleichtern. Als Organisation konnte sie gegenüber der Politik auftreten und unter Berufung auf universitäre Autonomie und Wissenschaftsfreiheit die jeweiligen nationalen Traditionen behaupten und die institutionellen Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Den britischen Universitätsvertretern ging allerdings auch dieser Zusammenschluss bereits zu weit, so dass sie sich zunächst nicht beteiligten.
Seit den 1960er-Jahren schwächte sich dieser Abwehrkampf ab, da die Brüsseler Kommission supranationale Bestrebungen aufgab. Sie beschränkte sich auf eine Rolle als Rahmengeber und trat damit neben die nationalen und regionalen politischen Ebenen. Finanzielle Anreize aus Brüssel erleichterten es den Hochschulen, dies zu akzeptieren. Die Gelder für Forschung und internationale Austauschprogramme trafen zudem auf eine neue Generation von Hochschulrektoren, die Europäisierungstendenzen gegenüber aufgeschlossener war.
Neben dem Verdienst, die ERK erstmals in den Mittelpunkt einer Studie gestellt und hierfür auch neue Quellenbestände erschlossen zu haben, liegt die Stärke der Studie darin, dass Lehmann Hochschulpolitik und das Wirken der in der ERK kooperierenden Universitäten in den allgemeinen politischen Zusammenhang einordnet. Über die Institutionengeschichte hinausgehend zeigt der Autor, welche Ansprüche an die Universitäten herangetragen wurden - hier insbesondere der, zu einer gesellschaftlichen Europäisierung beizutragen. Die Universitäten setzten dem, so Lehmanns Befund, ein institutionelles Beharren auf überkommenen, weitgehend in nationalen Rahmen entwickelten Traditionen entgegen. Die Studie zeigt dann auch, wie es der Kommission allmählich gelang, durch finanzielle Anreize und das Setzen von Rahmen, die auszufüllen den Hochschulen überlassen blieb, europäische Gemeinsamkeiten im Hochschulwesen zu stärken.
Anmerkung:
[1] Kiran Klaus Patel: Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018; ders: Provincialising European Union: Co-operation and Integration in Europe in a Historical Perspective, in: Contemporary European History 22 (2013), 649-673.; ders.: Europäische Integrationsgeschichte auf dem Weg zur doppelten Neuorientierung. Ein Forschungsbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), 595-642.
Barbara Wolbring