Werner Greiling / Uwe Schirmer / Elke Anna Werner (Hgg.): Luther auf der Wartburg 1521/22. Bibelübersetzung - Bibeldruck - Wirkungsgeschichte (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation; Bd. 13), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 378 S., 69 Farb-, 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-52008-3, EUR 60,00
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Lutherjubiläen sind für Tourismusbranche, Ausstellungsmacher und wissenschaftliche Tagungen nach wie vor ein willkommener Anlass, um aktiv zu werden. Folglich fand 2021, anlässlich der 500. Wiederkehr von Martin Luthers Wartburgaufenthalt, einem Ereignis von "geradezu welthistorischer Dimension", so die Herausgeber:innen im Vorwort (9), eine fächerübergreifende Konferenz im thüringischen Eisenach statt, deren Ergebnisse bereits im Folgejahr gedruckt vorlagen. Anders als es der Bandtitel vermuten lässt, stehen aber nicht ausschließlich Luthers als Junker Jörg getarnter Aufenthalt auf der Wartburg oder seine Übersetzung des Neuen Testaments im Zentrum.
Der Abschnitt "Spätmittelalterliche Bibelübersetzungen und kritische Editionen vor 1517" bereitet mit drei Beiträgen sozusagen das Terrain, von Bibelwissenschaften in Spanien (Stephan Fleming), vorreformatorischen Bibelübersetzungen in deutscher Volkssprache (Jens Haustein) hin zu einigen "übergreifenden Beobachtungen" zur einschlägigen Situation vor 1521: etwa räumliche Dimension, sprachliche und literarische Kontexte, Adressaten der Übersetzungen etc. (Achim Hack).
In "Sprache und Rezeption" dekonstruiert Hans-Joachim Solms einmal mehr den immer noch gepflegten Mythos von Luther als dem Schöpfer der neuhochdeutschen Sprache, was dessen Bedeutung für deren Entwicklung jedoch in keiner Weise schmälert. Auch die "Statenvertaling" von 1637 (Hans Beelen), die erste vollständige niederländische Bibelübersetzung aus den Grundsprachen, hat hinsichtlich ihrer sprachformenden Wirkung eine Umbewertung erfahren und gilt heute etwa in Bezug auf Rechtschreibung oder Grammatik als überschätzt. Ein interessantes Projekt aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die "Schullehrer-Bibel" von Gustav Friedrich Dinter, deren Genese, Verbreitung, Kritik sowie Konkurrenzunternehmen aufschlussreiche Einblicke in die deutsche protestantische Landschaft jener Zeit ermöglichen (Werner Greiling). "Bilderbibeln" in Renaissance und Barock rekurrierten auf Illustrationen aus der Lutherzeit; die Künstler waren wie Lucas Cranach d.Ä. selbst vielfach ebenfalls prominent, etwa Matthaeus Merian d.Ä. (Bridget Heal).
Fünf Beiträge veranschaulichen den "Weg zur Vollbibel (1522-1534)": Luthers Briefe, die er von der Wartburg aus an seine Mitstreiter in Wittenberg adressierte, erlauben instruktive Einblicke in die Arbeiten am Neuen Testament, zumal sie die "einzige[n] zuverlässige[n] Quelle[n]" (155, Stefan Michel) sind. Es folgen vier buchgeschichtliche Beiträge: über die Bedeutung von Luthers Bibel-Werk für den Buchhandel (Thomas Fuchs), frühneuzeitliche illuminierte Lutherbibeln (Anja Grebe), die anhaltischen Prachtbibeln und ihre Ausstattung durch Lucas Cranach d.J. (Nadine Willing-Stritzke) sowie zu den Illustrationen der Vollbibel von 1534 (Sebastian Dohle).
Im vierten Abschnitt - "Luther auf der Wartburg" - rekonstruiert Christopher Spehr penibel Luthers Reisewege sowie seine Kontakte zwischen April 1521 und März 1522; in bewährter, aus den Quellen gearbeiteter Weise gewährt Uwe Schirmer Einblick in Funktionswandel und Alltag der Wartburg sowie des Amtes Eisenach zwischen 1443 und 1525; Daniel Görres und Thomas Klinke beschäftigen sich mit Cranachs berühmtem Holzschnitt, Luther als Junker Jörg darstellend.
Die beiden Abendvorträge der Tagung fanden ebenfalls Aufnahme in den Band: Johannes Schilling wirft Schlaglichter auf "Das Newe Testament Deutzsch": Er arbeitet mit Vor- und Rückblicken und betont dabei Luthers Leistung. Das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Cranach, Luther und der Bibel analysiert Elke Anna Werner aus interdisziplinärer Perspektive. Orts- und Personenregister ergänzen das gut illustrierte Buch.
Erfreulicherweise konzentriert sich der Band also nicht nur auf Luther und sein Werk, sondern ordnet seine Übersetzungstätigkeit in eine longue durée volkssprachlicher Bibelübersetzungen ein. Der bisherige Wissensstand wird in kompakter Weise dargestellt und manche neue Perspektive eröffnet, wobei ein gewisser Schwerpunkt auf buchgeschichtlichen Beiträgen liegt.
Wenngleich der Rezensentin bewusst ist, dass die Quellenbasis für den Aufenthalt Luthers auf der thüringischen Burg nicht gerade üppig ist, hätte sie sich doch gerade dazu ausführlichere Informationen gewünscht, wobei Uwe Schirmer in seinem Beitrag durchaus Einblicke in Luthers Lebensumstände auf der Wartburg gibt. Wie aber hat "Junker Jörg" sein "Patmos" - so die Eigenbezeichnung - wahrgenommen und welche Mythen sind um diesen Aufenthalt entstanden: wann und warum, weshalb sind diese - auch zum "Schöpfer" der deutschen Sprache - so langlebig? Dem Eindruck der Verfasserin zufolge hat sich die Wissenschaft -historische und theologische Forschung - in erster Linie mit der Übersetzung des Neuen Testaments und Luthers Kurzaufenthalt in Wittenberg beschäftigt: Anderer Themen haben sich belletristisch tätige Schriftsteller - vereinzelt auch Schriftstellerinnen - angenommen. Zudem ist im "klassischen" Luther-Drama nahezu immer ein Akt der auf der Wartburg verbrachten Zeit vorbehalten: Alle diese Dichtungen, selbstverständlich auch literarische Kleinformen, haben das Bild des vom Teufel angefochtenen Junker Jörg geprägt - bis heute. Umso bedauerlicher, dass die Organisator:innen der Tagung bzw. die Bandherausgeber:innen diesen Aspekt nicht berücksichtig haben.
Grundsätzlich handelt es sich um mit Gewinn zu lesende Beiträge unterschiedlichen Zuschnitts: Wenngleich Luthers Leistung heute anders, ausgewogener, bewertet wird als in früheren Zeiten, umflort ihn allerdings immer noch ein wenig der Nimbus des "großen Deutschen".
Martina Fuchs