Volker Ullrich: Schicksalsstunden einer Demokratie. Das aufhaltsame Scheitern der Weimarer Republik, 2. Auflage, München: C.H.Beck 2024, 383 S., 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-82165-3, EUR 26,00
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Die während der vergangenen zehn Jahre aufgeblühte Forschung zur Weimarer Republik hat immer wieder die historische Offenheit der ersten deutschen Demokratie betont. Doch kann niemand, der zu dieser Epoche forscht der Frage ausweichen, welche Faktoren und Kipppunkte letztlich für die Zerstörung der Weimarer Republik entscheidend waren. Einen neuen Anlauf bei der Beantwortung dieser großen, mittlerweile ganze Bibliotheken füllenden Frage unternimmt der Historiker Volker Ullrich mit seinem jüngst erschienenen Buch "Schicksalsstunden einer Demokratie". In Anspielung auf Bertolt Brechts Theaterstück und Hitler-Parabel "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" erzählt Ullrich darin die Geschichte der Weimarer Republik als eine epische Kette von zehn historischen Momenten. Jeder von diesen besitzt zwar seinen Anteil am späteren Untergang der Weimarer Republik, enthält aber gleichzeitig auch Hinweise auf historische Alternativen - und widerlegen so einmal mehr die hartnäckige Mär von der Zwangsläufigkeit des Scheiterns. Mit den "Schicksalsstunden einer Demokratie" kehrt Ullrich nach eigenem Bekunden zu seinen Anfängen als Geschichtsstudent in Hamburg zurück. Angeregt durch seinen damaligen akademischen Lehrer Fritz Fischer habe er sich 1963 erstmals mit Karl Dietrich Brachers bahnbrechender Studie "Die Auflösung der Weimarer Republik" beschäftigt, die sein Denken nachhaltig geprägt habe.
In seiner flüssigen und überaus lebendig geschriebenen Darstellung trifft Ullrich eine kluge Auswahl an Weimarer "Schicksalsstunden". In zehn Kapiteln behandelt er die Revolution von 1918/19, den Kapp-Lüttwitz-Putsch (1920), den Mord an Walther Rathenau (1922), das Krisenjahr 1923, die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten (1925), den Bruch der letzten Großen Koalition (1930), die NSDAP-Regierungsbeteiligung in Thüringen (1930), den Sturz Reichskanzler Brünings (1932), den sogenannten Preußenschlag (1932) sowie die Machtübertragung an Hitler (1933). Ein Zusatzkapitel widmet er den Reaktionen auf den 30. Januar 1933. Erfreulich bei dieser Auswahl ist die Berücksichtigung jeder Phase der Weimarer Republik - einschließlich der Jahre der relativen Stabilität -, wodurch sich die Betrachtung nicht auf die krisenhafte Spätphase der Republik ab 1930 verengt. Jedes der Kapitel ist zudem in sich abgeschlossen, so dass eilige Leser auch problemlos einzelne Abschnitte überblättern können, ohne dadurch den Faden zu verlieren.
Kenntnisreich und auf nur rund 20 Seiten kompakt schildert Ullrich beispielsweise das Krisenjahr 1923, ohne sich in den Details von Ruhrbesetzung, Hyperinflation, Hamburger Aufstand und Hitler-Putsch zu verlieren. Hierbei flankiert der Autor die Schilderung der Ereignisgeschichte mit der Wiedergabe von zeitgenössischen Quellen, vorrangig Pressestimmen aus dem In- und Ausland sowie Zitate aus Memoiren von Zeitgenossen. Darunter befinden sich Klassiker wie der unvermeidliche Harry Graf Kessler oder der immer etwas altklug wirkende Sebastian Haffner, aber auch weniger bekannte Quellen, die unerwartete Einsichten in die zeitgenössische Wahrnehmung bieten. So überrascht etwa die Einschätzung der New York Times im November 1923, nach der das Scheitern des Münchner Putsches wohl "das sichere Ende Hitlers und seiner Anhänger markiere". (121) Sehr gelungen erscheint auch die Darstellung der "konservativen Wende" (127) zur Wahl Hindenburgs im Frühjahr 1925: Ullrich zeichnet die Ränkespiele und taktischen Manöver nach, die nach dem ergebnislosen ersten Wahlgang zur Aufstellung Hindenburgs im zweiten Durchgang führten. Es zeigt sich, dass die vermeintliche Geschlossenheit des Mitte-Rechts-Bündnisses ("Reichsblock") mehrfach auf die Probe gestellt wurde und sich Stresemanns DVP nur widerwillig in die Front der Hindenburg-Unterstützer einreihte. Ullrich macht zu Recht deutlich, dass nicht nur das Beharren der KPD auf der aussichtslosen Kandidatur Ernst Thälmanns, sondern vor allem die Wahlempfehlung der Bayerischen Volkspartei für Hindenburg am Ende den Ausschlag für dessen knappen Wahlsieg gab.
Mit Blick auf die aktuelle politische Lage in Thüringen ist das Kapitel über die dortige NSDAP-Regierungsbeteiligung in den Jahren 1930/31 von besonderem Interesse. Nach einem Rechtsruck bei der Landtagswahl am 8. Dezember 1929 hatte sich im Januar 1930 in Weimar erstmals eine Landesregierung unter Einschluss der NSDAP gebildet, mit Hitlers langjährigem Weggefährten Wilhelm Frick als Minister für Inneres und Volksbildung. Ohne Zögern machte sich der neue Ressortchef an seine von Hitler gestellten Hauptaufgaben: die "langsame Säuberung des Verwaltungs- und Beamtenkörpers von den roten Revolutionserscheinungen" (200) - sprich die Entlassung von republiktreuen Beamten und deren Ersetzung durch NSDAP-Gefolgsleute - sowie eine radikale Wende in der Kulturpolitik des Landes. Durch den folgenden Feldzug gegen "art- und volksfremde Kräfte", die zuvor "die geistig-sittlich-religiösen Grundlagen [...] deutschen Denkens und Fühlens zu zerstören" (202) versucht hätten, lieferte Frick einen "Vorgeschmack dessen, was von einer Machtübernahme der Nationalsozialisten zu erwarten war". (207 f.) Zu den symbolträchtigen Maßnahmen der Rückabwicklung der Weimarer Kultur gehörten etwa ein Verbot von Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" als Schullektüre (Februar 1930), der Aufruf "Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum" (April 1930), die bildersturmartige Entfernung von 70 Werken moderner Künstler aus dem Weimarer Schlossmuseum (Oktober 1930) oder die dreiste Berufung des Rassentheoretikers Hans F. K. Günther zum Professor an der Universität Jena (November 1930).
Eindrucksvoll schildert Ullrich schließlich auch den letzten Akt der Weimarer Republik, das verantwortungslose Intrigenspiel in den Wochen und Monaten vor dem 30. Januar 1933. Wenn auch längst der Geschichtswissenschaft bekannt, ist es doch immer wieder aufs Neue frappierend zu sehen, dass viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zum Jahreswechsel 1932/33 Hitler und seine NSDAP inzwischen über dem Zenit erachteten. Bezeichnend erscheint etwa die von Ullrich zitierte Aussage des britischen Labour-Politikers Harold Laski, der Ende 1932 bekundete, Hitler werde wahrscheinlich seine Karriere als "alter Mann in einem bayerischen Dorf" beschließen, der "abends im Biergarten seinen Vertrauten erzählt, wie er einmal beinahe das Deutsche Reich umgestürzt habe". (283)
Ullrich gelingt mit seinem gründlich recherchierten wie kurzweiligen Buch eine kluge Analyse der Schlüsselmomente der Weimarer Republik. Sowohl Kenner der Materie als auch Einsteiger werden es mit Gewinn lesen können: Selbst mit großen Vorkenntnissen zur Weimarer Republik wird man angesichts der Quellenfülle auf bislang unbekannte Aspekte stoßen, für ein breiteres Publikum bietet sich Ullrichs Werk auch als Einführung in die Geschichte der ersten deutschen Demokratie an. Die Auswahl seiner Quellen gibt ein umfassendes Stimmungsbild, wenn auch ein Großteil der herangezogenen Zitate von den politischen, gesellschaftlichen und publizistischen Eliten der Hauptstadt stammt und so die erste deutsche Demokratie vor allem als eine Berliner Republik erscheint. Ungeachtet dessen ist das Buch gerade jetzt in Zeiten gefährdeter Demokratien ein wichtiger Beitrag zum Nachdenken über die Verletzlichkeit, aber auch die Wehrhaftigkeit der Gesellschaftsordnung unserer Zeit.
Marcel Böhles