Volker Ullrich: Das erhabene Ungeheuer. Napoleon und andere historische Reportagen (= Beck'sche Reihe; 1774), München: C.H.Beck 2008, 208 S., ISBN 978-3-406-56820-6, EUR 12,95
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Volker Hunecke: Napoleons Rückkehr. Die letzten hundert Tage - Elba, Waterloo, St. Helena, Stuttgart: Klett-Cotta 2015
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Der ZEIT-Redakteur und Historiker Volker Ullrich präsentiert in diesem Sammelband eine Auswahl seiner vorwiegend in der ZEIT erschienenen Aufsätze. Neben biografischen Abhandlungen - etwa über Napoleon, Bismarck oder Rosa Luxemburg - enthält das Werk Reportagen über spezielle Ereignisse oder auch allgemeine Entwicklungen der deutschen Geschichte. Exemplarisch seien hier die "Daily-Telegraph-Affäre" von 1908 oder das Verhalten der SPD angesichts von Hitlers Machtergreifung genannt. Die einzelnen Themenbereiche verbindet lediglich Ullrichs genereller Anspruch, mit seinen Abhandlungen "einen Beitrag zur historisch-politischen Bildung" (8) leisten zu wollen.
Daneben illustrieren die einzelnen Artikel jedoch auch Ullrichs Verständnis davon, wie "Geschichte geschrieben werden soll", um die Angabe des Buchrückens zu zitieren. Der Verfasser widmet sich dieser Frage im letzten Kapitel des Buches mit dem Titel "Geschichtsschreibung und Öffentlichkeit", in dem er Richtlinien für die Erstellung einer historischen Biografie entwickelt. Der Biograf solle das Individuum mit den "überindividuellen Strukturen und Prozessen" seiner Epoche in Bezug setzen, also "Strukturgeschichte und Personengeschichte" verbinden (161). Außerdem müsse eine gelungene Biografie "psychoanalytische Theorien" berücksichtigen, um "Charaktereigentümlichkeiten und Handlungsmotivationen" ergründen zu können. Wichtig sei ferner, "Brüche und Widersprüche" in Leben und Handeln der dargestellten Person zu berücksichtigen, die "Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte" zu thematisieren und sich der Perspektivität als Biograf bewusst zu sein.
Zuletzt fordert Ullrich noch eine bestimmte "Kultur des Erzählens", welche er in "vielen Biografien aus der Feder deutscher Fachhistoriker" (166) vermisse. Als positive Beispiele nennt er Publizisten wie Joachim Fest oder Sebastian Haffner. Den "Vertretern der akademischen Disziplin" wirft Ullrich vor: "So schreiben wie jene Publizisten - das wollen oder können sie nicht." (167) Der Autor sieht darin einen "der Gründe für die Distanz zwischen Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit hierzulande" (167). Ullrichs letzter Aufsatz stellt denn auch fest, die "Darstellung und Vermittlung von Geschichte in der Öffentlichkeit" obliege vor allem den "Historiker-Journalisten" (169). Generell widmet sich der abschließende Artikel der Rolle der Geschichte in den Printmedien. Ullrich würdigt kritisch deren Bedeutung für die Präsentation von Geschichte für ein breites Publikum und die Anregung von historischen Großdebatten. Allerdings vermutet er, dass das Internet die Rolle der Printmedien in Bezug auf historische Diskussionen übernehmen werde.
Die Umsetzung von Ullrichs theoretischen Leitlinien lässt sich insbesondere anhand seiner biografischen Aufsätze im ersten Kapitel "Napoleon und Bismarck" verfolgen. In den Artikeln "Das erhabene Ungeheuer" und "Wie tief man ihn grollend geliebt hat..." widmet er sich explizit der Rezeptionsgeschichte. Ullrich schildert, wie sich die Bilder von Napoleon und Bismarck in Deutschland vom 19. Jahrhundert bis nach dem Zweiten Weltkrieg veränderten. Das Napoleonbild der Deutschen hält Ullrich für eng verbunden mit Problemen "ihrer Selbstfindung als Nation" respektive ihrer eigenen "Befindlichkeit" (21). Der Autor beschreibt daraufhin zahlreiche Wandlungen und Umdeutungen der historischen Gestalt Bonaparte. So hätten Napoleon bzw. dessen Herrschaft etwa als positiver Gegenentwurf zur politischen Lage im Deutschland der Reaktionszeit nach 1815 gedient. Der nationale Rausch der Reichsgründung von 1871 habe hingegen wieder eine negative Sichtweise des französischen Kaisers befördert. Im Zusammenhang mit Bismarck analysiert er vor allem, wie sich das Bild vom "Eisernen Kanzler" von seiner realen Person und seiner gemäßigten Außenpolitik entfernt habe. Ullrich kritisiert in diesem Kontext die deutsche Historiografie, die dieser Umdeutung nicht etwa entgegengewirkt, sondern sie sogar noch bestärkt habe.
Seine Bismarckdarstellung demonstriert außerdem den von ihm geforderten Einsatz psychoanalytischer Methoden. In seinem Aufsatz "Der hysterische Koloss" stellt er den Reichskanzler als sensiblen und wehleidigen Menschen dar, was er auf emotionale Entbehrungen in dessen Kindheit zurückführt. Diese Zugangsweise dient Ullrich ebenfalls dazu, das Bild des "Eisernen Kanzlers" zu dekonstruieren. Individuelle und strukturelle Faktoren werden bei der Beschreibung des kommunistischen Bandenführers Karl Plättner aus den zwanziger Jahren verknüpft: Dessen Entwicklung zum Terroristen gehe zum einen auf persönliche Aversion gegen Zwang und Disziplin, zum anderen aber auch auf die radikalisierenden Faktoren Krieg und Revolution zurück.
Ullrichs Aufsätze bieten überzeugende Beispiele für die praktische Umsetzung seiner theoretischen Vorstellungen von historischen Biografien. Seinem Anspruch, zur historisch-politischen Bildung beizutragen, werden insbesondere die Darstellungen des Napoleon- und Bismarckbildes gerecht. Es ist zweifellos ein großes Verdienst des Verfassers, ein breites Publikum für das Schwanken historischer Bewertungen, abhängig von tagespolitischen Tendenzen, zu sensibilisieren. Freilich hält er selbst mit seinen Sympathien für bestimmte Personen nicht hinter dem Berg, etwa wenn er Rosa Luxemburg attestiert "für eine gerechtere Welt gekämpft" zu haben (77). Über den Terroristen Plättner schreibt er gar: "Zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, welche die herrschende Ungerechtigkeit nicht ertrugen, sondern ihr auf individuelle Weise abhelfen wollten." (78)
Erkennbar sind die "Reportagen" um eine farbige Darstellung und atmosphärische Bilder bemüht. So erfahren wir etwas über das Wetter am Tag von Napoleons Kaiserkrönung oder der Hinrichtung des Räubers Schinderhannes. Oder über Josephine anlässlich der Kaiserkrönung: "Wie eine 25-Jährige sieht sie an diesem Tag aus und ihr Gemahl lässt sich von ihrem Anblick wieder einmal bezaubern." (16) Derartige Versuche, historische Darstellungen mit Leben zu füllen, sind prinzipiell durchaus sinnvoll. Mitunter erscheinen sie jedoch ebenfalls etwas plakativ, beispielsweise wenn Ullrich über die Hinrichtung des Schinderhannes bemerkt: "Er wird auf das Brett geschnallt, unter das Beil geschoben - und mit ringsum widerhallendem Schlag trennt das zentnerschwere Messer den Kopf vom Rumpf." (60) Ob dieser Stil als uneingeschränkt vorbildlich gelten kann, sei dahingestellt.
Sebastian Dörfler