Lambert Wiesing: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 2046), Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2013, 230 S., ISBN 978-3-518-29646-2, EUR 12,00
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Entspricht es einer Mythologie, von der "Macht der Bilder" oder dem "Leben der Bilder" zu sprechen? Lambert Wiesings Ansatz in seinem jüngsten, Anfang 2013 in der Reihe Suhrkamp Wissenschaft erschienenen Buch Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, entzündet sich gerade an dieser Frage (78-105, hier 88). Seine Kritik daran scheint berechtigt und auch wieder nicht: Denn ist es nicht die Frage nach der Eigenlogik des Bildes, die zu Beginn der 90er-Jahre die Diskussion um die Bedeutung von Bildern neben der Sprache als solche überhaupt erst aufbrachte? So ist es vor allem ein Verdienst des Basler Kunstwissenschaftlers Gottfried Boehm, des amerikanischen Erforschers der Visual Cultures W.J.T. Mitchell und des Berliner Kunsthistorikers Horst Bredekamp, sich dieser Frage als Aufgabe angenommen und in bedeutenden Forschungseinrichtungen vorangetrieben zu haben. Dennoch, berechtigt scheint die Kritik daran insofern, dass die Forscher tendenziell dazu neigen, Bilder als eigenständige Agenten vorzustellen. In Abgrenzung zu diesem Ansatz betont Wiesing, Bilder seien Gebrauchswerkzeuge, ihre Funktion bestehe darin als Zeige-Werkzeuge zu dienen.
Damit berührt Wiesing eine für die Kunst- und Bildtheorie von Beginn an zentrale Frage, die nach dem Gehalt bzw. dem Symbolwert von Bildern. Denn werden Bilder, wie von Wiesing vorgeschlagen, als Werkzeuge definiert, können sie nur das zeigen, was von demjenigen vorgesehen ist, der es geschaffen hat. Wird die Deixis und damit das Zeigen jedoch als Verweissystem des Bildes selbst gedeutet, so könnte dieses über seine Erscheinung hinaus auf etwas Anderes, Drittes, etwa Göttliches hinweisen. Es könnte jedoch auch einfach "nur" als ein Abbild der realen Welt verstanden werden, wie es bei einer Fotografie üblich ist. Beide Annahmen schließen jedoch eine Deutung von Bildern als Zeige-Werkzeuge aus. Damit verspricht das Unternehmen, dem sich Wiesing stellt, spannend zu sein. Es sind phänomenologische und semiotische Bildtheorien, auf die sich Wiesing dabei stützt. Neben der Herleitung (19-51) und den Aussagen zum Selbstverständnis der These (55-105), sowie der Besprechung möglicher Gebrauchsfunktionen von Bildern (109-191) stellt Wiesing in den letzten beiden Kapiteln zudem vor, warum dasjenige, was uns mit dem Bild vorgestellt wird, überhaupt verstanden werden kann (192-230).
Den Ausgangspunkt seiner Untersuchung bildet für Wiesing im Anschluss an Heidegger, das Zeigen mittels Bildern als "Sehen-Lassen von etwas Intendiertem" zu definieren (19-24, hier 21). So sei es erst der Gebrauch der Bilder, die diese zu Zeichen mache, sodass sie als ein Mittel in einem kommunikativen System fungieren können. Das auf Bildern Sichtbare als womöglich neutrale Erscheinungen von Welt, von unabhängigen Ideen, als Ausdruck eines göttlichen oder schopenhauerischen Willens oder einer inhärenten Kraft oder Macht auszulegen, schließt sich von daher aus (78-105, 38). Das gleiche gelte auch für ihre Interpretation als optische Illusionen (55-65). Viel eher entsprechen Bilder Phantomen, da sie als Nur-Sichtbare eine artifizielle Präsenz haben (66-77, 73). Bilder haben so gesehen von sich aus keinen Bezug zu etwas, dieser werde vielmehr vom Gestalter vorgegeben.
Mögliche Gebrauchsfunktionen von Bildern sieht Wiesing beispielsweise in der Etablierung eines Verortungssystems, das mit der Erfindung der Zentralperspektive möglich werde (141-179), während durch die Entkontextualisierung von Bildern im Museum deutlich werde, was mit Bildern alles gezeigt werden kann (180-191). Darüber hinaus können Bilder aber auch als emotional verwertbare Ersatz-Werkzeuge dienen: im Sinn eines "Zeigen[s] der Stimmung mittels des Artefakts." Vor diesem Hintergrund vermögen Bilder als Instrumente eingesetzt zu werden, um neben Stimmungen auch Wertungen, Gefühle und Einstellungen zu vermitteln (192-215, hier 213).
Auf die auch für die Forschung brisante Frage, wie das möglich sei, betont Wiesing, dass, wenn Bilder die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wie selbstverständlich ein Verstehensprozess einsetze, der sich als ein Vorgang der Übertragung kennzeichnen lasse. Damit beschreibt Wiesing einen Vorgang, in dem das, was auf dem Bild wahrgenommen wird, mit etwas Anderem, Gewussten, Vorgestellten oder Empfundenen in Einklang gebracht wird. Im Kern verweist Wiesing damit auf eine Ähnlichkeitsbeziehung, die zwischen den Artefakten (den je gestalteten Bildern) und der Psyche (den Anschauungsweisen, mit der die Welt von uns als eine solche überhaupt erst gegriffen wird) aufgebaut werde (208-215, insb. 211, vgl. zudem grundlegend 31-39). Eine These, die dieser bereits zuvor im Rahmen seiner Untersuchungen zur Geschichte der formalen Ästhetik aufgestellt hat. [1]
Von daher handelt es sich bei diesem Tun, wie es Wiesing beschreibt, um einen Vorgang, in dem der Betrachter aktiv über die Gleichsetzung eines ursprünglich Nicht-Gleichen Sinn erzeugt. Angenommen bzw. zu überzeugen vermag das Ergebnis dieses Tuns trotz des Widerspruchs nach Wiesing nur, da es von uns als ein kausaler Zusammenhang aufgefasst werde. Im Anschluss an semiotische Bildtheorien erklärt Wiesing dieses Tun als einen "Vorgang der Verkörperung" (109-230, hier 118-122, vgl. weiterführend zum Begriff des ikonischen Zeichens, zur Exemplifikation und zur Probehandlung (122f.) bzw. zur Spur (197f.) und Als-Ob-Kausalität (215f.)). Demnach finde in der Praxis des Zeigens eine Übertragung statt, bei der, vom Bildobjekt ausgehend, Bezüge zu Eigenschaften hergestellt werden, die an etwas Anderem ebenfalls beobachtet wurden. Am Beispiel eines Zeigefingers wird dieser Zusammenhang veranschaulicht. So werde das Zeigemittel, der Finger, in Bezug zum ausgestreckten Finger gesetzt, der eine Richtung anzeigt. Demnach werde in beiden Fällen etwas gleichgesetzt, was nicht gleich ist, nämlich das Haben und Bedeuten von etwas: des Zeigefingers mit einer Richtung und des (artifiziellen) Bildobjekts mit einer "Realität". Der Bezug zur Ursache, der darin erkennbar wird, sei jedoch gerade im Fall eines Bildes kein physikalischer und damit natürlicher, sondern einer der unterstellt bzw. angenommen werde (202). Diesen Vorgang der Übertragung von einer zur anderen Ebene könne nur die Sprache leisten, die diese partielle Identität konstruiere (211f.).
Damit ist es, wie Wiesing im Anschluss an den Medientheoretiker Klaus Sachs-Hombach hervorhebt, der zuvor hineingelegte (ausgewählte) Sinn, der die Regel für die Zeigehandlung vorgibt und damit dasjenige, was Sehen-Gelassen wird (130-136, 131). Um mit dem Gezeigten glaubwürdig zu sein, müsse der Zeigende, so Wiesing abschließend, daher entweder eine "echte" Spur und damit eine konkrete, verbindende Eigenschaft dessen verwenden, was er zeigen möchte oder etwas so zum Zeigen verwenden als wäre es eine solche Gemeinsamkeit bzw. Spur (230).
Zur Frage der "Macht der Bilder" hat damit Lambert Wiesing ein eindeutiges Plädoyer abgegeben: Akteure sind nicht die Bilder selbst, sondern diejenigen, die Sehen-lassen und diejenigen, die sich davon beeinflussen lassen. Eine Vertiefung dieses Ansatzes und zugleich mögliche Erklärung für die scheinbar eigenmächtige, lebendige Wirkung der Bilder eröffnen innerhalb der Symbol- und Verkörperungstheorien in der Nachfolge von Ernst Cassirer, Susanne K. Langer und John M. Krois, für die neben sprachlichen auch körpereigene, affektiv-emotionale Prozesse für den Abgleichungsprozess von Bild und einem möglichen Sinn bedeutsam werden. [2]
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu ders.: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Frankfurt a.M. 2008 (1997), 16f.; vgl. dazu ergänzend die Rezension von mir, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8, http://www.sehepunkte.de/2010/07/15646.html [15.07.2010].
[2] Vgl. hierzu Martina Sauer: Ästhetik und Pragmatismus. Zur Frage der Vereinbarkeit von ästhetischer Theorie und Handlungsrelevanz bei Cassirer, Langer und Krois, in: IMAGE 20 (2014), Nr. 2, http://www.gib.uni-tuebingen.de/image [in Vorbereitung]; vgl. hierzu ergänzend die Rezension von mir zu John M. Krois: Bildkörper und Körperschema, hgg. v. Horst Bredekamp / Marion Lauschke, Berlin 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 4, http://www.sehepunkte.de/2013/04/22945.html [15.04.2013].
Martina Sauer