Rezension über:

Irene Dingel / Robert Kolb / Nicole Kuropka u.a. (eds.): Philip Melanchthon. Theologian in Classroom, Confession, and Controversy (= Refo500 Academic Studies; Vol. 7), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 288 S., ISBN 978-3-525-55047-2, EUR 89,99
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Rezension von:
Martin H. Jung
Institut für Evangelische Theologie, Universität Osnabrück
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Martin H. Jung: Rezension von: Irene Dingel / Robert Kolb / Nicole Kuropka u.a. (eds.): Philip Melanchthon. Theologian in Classroom, Confession, and Controversy, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/04/22504.html


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Irene Dingel / Robert Kolb / Nicole Kuropka u.a. (eds.): Philip Melanchthon

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Hinter dem originell formulierten Titel stößt der Leser auf einen eher langweiligen Band, der zwar auf eine Wolfenbütteler Tagung im Melanchthonjahr 2010 zurückgeht, aber nur fünf neue Beiträge zu überwiegend abgegriffenen Themen enthält. Die zwölf Beiträge stammen von vier Autoren, zwei deutschen und zwei amerikanischen: Irene Dingel, Nicole Kuropka, Robert Kolb, Timothy J. Wengert. Alle sind Theologen und ausgewiesene Melanchthonkenner. Allerdings wurden sieben der zwölf Aufsätze schon zuvor, vor allem im Umfeld des Melanchthonjahres 1997 publiziert. Alle Beiträge sind in englischer Sprache verfasst, die zuvor deutsch publizierten Beiträge wurden ins Englische übersetzt. Die anzuzeigende Publikation ist somit für einen englischsprachigen Leserkreis bestimmt und für diesen, sofern er des Deutschen nicht mächtig ist und die zuvor schon publizierten Beiträge nicht lesen konnte, durchaus sinnvoll und hilfreich, für ein deutschsprachiges Publikum jedoch weniger. Der Band ist lobenswerterweise mit einem Personen- und sogar mit einem Sachregister ausgestattet.

Die drei Stichworte des Untertitels finden sich in den drei Themenblöcken wieder, in die der Band gegliedert ist: Melanchthons Unterrichtstätigkeit, Melanchthons Engagement um das evangelische Bekenntnis und Melanchthons Rolle in den innerevangelischen theologischen Kontroversen der späteren Reformationszeit. Vier der fünf neuen Beiträge gehören zum letzten Block: Philip Melanchthon in Controversy.

Die drei Themenstichworte sind für Melanchthon relevant, aber auch lange vertraut. Als "Praeceptor Germaniae" wurde er bekanntlich schon zu Lebzeiten gewürdigt. Zu lehren war ihm zeitlebens ein Herzensanliegen. Und die Lernenden konnte er begeistern, was wir allerdings, wenn wir seine Schriften heute lesen, kaum nachempfinden können. Der einzige neue Beitrag in diesem Block stammt von Kolb und behandelt "The pastoral Dimension of Melanchthon's Pedagogical Activities for the Education of Pastors", eine interessante, wenn auch nicht wirklich innovative (vgl. die Veröffentlichungen hierzu von Marcel Nieden und Martin H. Jung) Fragestellung. Kolb setzt ein mit Melanchthons Antrittsrede 1518 und seinen Vorschlägen für die Reform des Theologiestudiums und gibt dann einen weiten Überblick über spätere Äußerungen Melanchthons hierzu. Er zeigt, dass Melanchthon seine Studenten auf ihre spätere Praxis vorbereiten wollte und vorbereitet hat und schließt mit der wertenden Feststellung, dass Melanchthon - mit seiner Betonung von antiken Sprachen und Rhetorik in der Bildung - Luthers "understanding of God's Word and of the life of the church" (40) voll und ganz entspricht. Aber darf denn Melanchthon nur gelobt werden, wenn er mit Luther übereinstimmt? Man spürt die Prämissen, unter denen diese Melanchthonforschung stattfindet.

Ebenso zentral für Melanchthon war sein Engagement für und in der evangelischen Bekenntnisbildung. Seine Rolle hier ist freilich, anders als seine Lehrerrolle, auch umstritten. Hat er die Wittenberger Reformation verraten, als er das Bekenntnis von 1530 sukzessive revidierte? Hat er schon 1530 versagt, als er nicht mutig bekennend, nicht kämpferisch, sondern kompromissbereit, "leise tretend" auftrat? Was dazu zu sagen ist, wurde gesagt. Neue Erkenntnisse oder Positionen gibt es nicht. Die Antworten bleiben kontrovers. Auch keiner der Beiträge des Bandes zu dieser Thematik ist neu.

Der letzte Themenblock zu den Religionskontroversen bietet vier neue Beiträge zu freilich ebenfalls alten, vielfach behandelten und meines Erachtens ausgereizten Fragestellungen: die Willensfreiheit und die Abendmahllehre. Aus meiner Sicht trägt die immer wieder erneute Erörterung gerade dieser Fragestellungen für Melanchthon nichts mehr aus, und sie ist für die Gegenwart weder interessant noch relevant. Melanchthon mit seiner universalen Gelehrsamkeit bietet so viele Themen, dass man sich wundert, dass sich evangelische Kirchenhistoriker immer wieder gerade auf diese beiden einlassen.

Gleichwohl haben Wengert, Kolb und Dingel für den theologiegeschichtlich und am Detail Interessierten durchaus Neues zu bieten, was so noch nicht gesagt und geschrieben wurde. Wengert behandelt in gewohnter Gründlichkeit ("microscopic look", 207) und Differenziertheit Melanchthons Haltung zur Willensfreiheit. Sein Hauptaugenmerk gilt den Wurzeln der melanchthonschen Lehre von den drei causae (Wort Gottes, Heiliger Geist, menschlicher Wille) bei der Bekehrung oder Entscheidung eines Menschen für Gott in den Jahren 1533-1535. Er stellt fest, dass für Melanchthon Erfahrung, Glaubenserfahrung eine zunehmende Rolle bei seiner theologischen Argumentation spielte, und schließt mit einem aktualisierenden, echt lutherischen Bekenntnis: "If faith is truly trust - and it is! - then it must always remain firmly connected to our experience of God's Word as law and gospel." (207)

In einem zweiten Beitrag untersucht Wengert Melanchthons Kolosserkommentar von 1557, einen wenig beachteten Text, hinsichtlich seiner Abendmahllehre und damit verbundener christologischer Fragestellungen. Neben genauer Textanalyse referiert der Autor auch Reaktionen zeitgenössischer Leser, darunter einen begeisterten Bullinger und einen verärgerten Brenz, dem Melanchthon anschließend sein "Hechinger Latin" (228), will sagen schwäbisches, ungepflegtes Latein (und damit auch unausgegorene Gedanken, denn Sprechen und Denken sah Melanchthon in einem engen Zusammenhang; M.H.J.), vorhält. Wengert hält Melanchthons theologische Argumentation nicht für befriedigend: "The result pleased no one." (231) Melanchthon habe sich geweigert "to take a stand" (231). Gleichwohl würdigt Wengert Melanchthon als "the central Protestant reformer in early modern Europe" (233) nach Luthers Tod, der Bullinger und Brenz, ja Calvin in den Schatten stellte.

Kolb wendet sich Melanchthonschülern zu, die zu Gnesiolutheranern wurden, darunter Joachim Westphal. Gerade zu Letzterem, dem von der Forschung trotz seiner immensen theologiegeschichtlichen Bedeutung bislang kaum beachteten Hamburger Theologen, leistet der Aufsatz erhebliche Forschungsbeiträge. Schon allein indem er zahlreiche in allen einschlägigen Lexikonartikeln und Kurzbibliografien zu Westphal bislang nicht genannte Schriften nennt und auswertet. Es gehört zu den persönlichen Dramen in Melanchthons Leben, dass sich viele Schüler, darunter sehr begabte und nachhaltig von ihm geförderte, so von ihm abwandten und ihn später bekämpften. Wieder ging es, vorrangig, um die Abendmahllehre. Westphal versuchte mit Melanchthon gegen Melanchthon zu kämpfen. Aber: "Westphal failed in his attempt to enlist Melanchthon for his defense of Wittenberg teaching as he had learned it." (257)

Dingel schlägt im letzten Beitrag des Bandes die Brücke von Melanchthon zur Konkordienfomel. Sie hebt hervor, dass in zentralen, zwischen Neu- und Altgläubigen kontroverse Fragen wie der Rechtfertigung Melanchthon den evangelischen Standpunkt konsequent wahrte (was freilich auch schon anders gesehen wurde; M.H.Jung), während er in anderen nach Kompromissen strebte. Auch sie wendet sich der Abendmahlthematik zu und untersucht Melanchthons späte Äußerungen hierzu und auf diesem Hintergrund die Formulierungen der Konkordienformel und stellt die Frage: "a Counter-Proposal or an Attempt at Integration?" (272). Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Konkordienformel zwar von den verschiedenen Positionen der Lutheraner und Philippisten zeugt, aber mit der Konkordienformel, gerade in der Abendmahlfrage, Martin Luther zum "real interpreter of the Augsburg Confession" geworden sei (278).

Martin H. Jung