Andrea Sinn: Jüdische Politik und Presse in der frühen Bundesrepublik (= Jüdische Religion, Geschichte und Kultur; Bd. 21), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 400 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-57031-9, EUR 59,99
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Die Dissertation von Andrea Sinn beschäftigt sich anhand zweier Biografien und zweier Institutionen mit der jüdischen Nachkriegsgeschichte in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre. Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt. Ein erster Abschnitt thematisiert die Wiedergründung jüdischer Gemeinden nach 1945, ein zweiter stellt die Akteure Karl Marx (1897-1966) und Hendrik G. van Dam (1906-1973) vor, die - so der dritte Abschnitt - für die Jüdische Allgemeine bzw. für den Zentralrat der Juden in Deutschland prägende Rollen spielten. Ein viertes Kapitel führt in die Politik der jüdischen Interessenvertretung nach innen und außen ein, in einem fünften Teil werden die Ergebnisse zusammengefasst.
Die Autorin identifiziert Marx, den Herausgeber der 1946 entstandenen Jüdischen Allgemeinen und van Dam, den Generalsekretär des 1950 gegründeten Zentralrats der Juden in Deutschland, als die wichtigsten politischen Protagonisten des deutsch-jüdischen Lebens. So geht es ihr um die Verbindung einer biografischen Perspektive mit der Geschichte der zentralen Institutionen des deutschen Judentums im politischen Leben der frühen Bundesrepublik. Grundlage sind u.a. Aktenbestände in den Archiven des Zentralrats der Juden in Deutschland und die Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, da weder Marx noch van Dam persönliche Nachlässe hinterließen und ein Redaktionsarchiv der Jüdischen Allgemeinen nicht existiert.
Schon bald nach Kriegsende zeichneten sich Konflikte innerhalb der in Deutschland lebenden jüdischen Gemeinschaft ab: Opfer des Holocaust in den Displaced Persons-Lagern drangen auf ihre baldige Emigration, während wieder und neu gegründete Israelitische Kultusgemeinden auf eine Zukunft in Deutschland setzten. Selbst wichtige Repräsentanten des deutschen Judentums, die Auschwitz überlebt hatten, waren hier gespalten: der gebürtige Berliner Norbert Wollheim vertrat vehement die Auswanderung, der gebürtige Hamburger Philipp Auerbach das Verbleiben in Deutschland.
Während es in der unmittelbaren Nachkriegszeit die KZ-Überlebenden gewesen waren, die für die Juden in Deutschland sprachen, rückten mit Karl Marx und Hendrik G. van Dam Emigranten zur Spitze vor. Ob diesen nun eine "natürliche Führerstellung" (Harry Maor, 183) zufiel oder ob es die durch die Emigration Wollheims und den Selbstmord Auerbachs entstandene Leerstelle war, die diese an zentrale Positionen rücken ließ, sei dahingestellt. Zu überlegen wäre aber, inwiefern die durch die KZ-Haft malträtierten Überlebenden, deren gesamte Familie ermordet worden war, psychisch und physisch in der Lage gewesen wären, sich mit der bundesdeutschen Gesellschaft zu arrangieren - Karl Marx und Hendrik G. van Dam, die im Exil überlebt hatten, fiel dies vermutlich leichter.
Ab Herbst 1946 war Karl Marx der Herausgeber des Jüdischen Gemeindeblattes für die britische Zone, das erstmals im April 1946 als Jüdisches Gemeindeblatt für die Nord-Rheinprovinz und Westfalen publiziert worden war und ab 1949 unter dem Namen Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland firmierte. Thematisch widmete sich die Zeitung bevorzugt den jüdischen Gemeinden, der Wiedergutmachung, aber auch der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und der Entwicklung in Eretz Israel. Der Blattmacher Karl Marx war dabei in einer diffizilen Lage: die Zeitung wurde von der britischen Besatzungsmacht gefördert, gleichzeitig kritisierte der Herausgeber aber das Verhalten der Briten in der Palästina-Frage. Nach der Gründung der Bundesrepublik sah sich Karl Marx immer stärker als Mittler zwischen Juden und bundesdeutscher Politik. Im Kampf für die Wiedergutmachung und zur Anbahnung des Luxemburger Abkommens (1952) suchte Marx den Kontakt mit Politikern: Er war mit Theodor Heuss befreundet und unterstützte aktiv die Kanzlerkandidatur Kurt Georg Kiesingers. Seine Nähe zu Konrad Adenauer brachte ihm Kritik aus Israel ein. Die Loyalität von Marx zur Regierung wurde nicht zuletzt mit Subventionen der Zeitung vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung belohnt. Eine genaue Beschreibung der Redaktion der Jüdischen Allgemeinen ist wegen des Mangels an Quellen allerdings nicht möglich und wird von Sinn daher eher anekdotisch aus Memoirenliteratur rekonstruiert.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland entstand aus einem dreifachen Dilemma: dem Abzug der westalliierten Besatzer, die bis dato vielen Überlebenden als primärer Ansprechpartner gedient hatten, dem ausdrücklichen Wunsch der bundesdeutschen Regierung, einen (und nicht Dutzende) offizielle Ansprechpartner zu haben und der Isolation der jüdischen Repräsentanten Deutschlands innerhalb des Jüdischen Weltkongresses. Generalsekretär des neunköpfigen Direktoriums des Zentralrats wurde im Herbst 1950 van Dam. Seine Ausbildung als Jurist, seine gute Kenntnis des britischen Besatzungsapparats ebenso wie seine Vernetzung innerhalb der jüdischen Gemeinden prädestinierten ihn für dieses Amt der politischen Interessenvertretung.
Der Zentralrat war in den 1950er Jahren dem Druck internationaler jüdischer Organisationen ausgesetzt, die die Legitimität jüdischer Gemeinden in Deutschland nach dem Holocaust bezweifelten und deren Auflösung befördern wollten. Nicht unproblematisch für die Legitimation des Zentralrats war, dass die Mitglieder des Direktoriums des Zentralrats fast nur deutsche Juden waren, obwohl die osteuropäischen Gemeindemitglieder überwogen. Bewährungsproben für den Zentralrat bildeten mehrere, eng mit Bayern verknüpfte Streitpunkte. In der Affäre um Philipp Auerbach, dem Betrug und Veruntreuung von Entschädigungsgeldern vorgeworfen wurden, fürchtete der Zentralrat ein Aufflammen antisemitischer Ressentiments. Insbesondere in Bayern, wo der Anteil osteuropäischer Juden hoch war, spielten sich regelrechte Schlammschlachten ab. Der Vorsitzende des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, der aus Polen stammende Maurice Weinberger, zeigte Norbert Wollheim wegen angeblicher kommunistischer Umtriebe bei den Amerikanern an, der daraufhin auf Ellis Island inhaftiert wurde, während Maurice Weinberger seinerseits von Gemeindemitgliedern Straftaten als Kapo im Dachauer Außenlager Kaufering vorgeworfen wurden. (Vgl. Augsburg 7 Js 241/54, Augsburg 7 Js 208/54.)
Klar differenziert die Autorin zwischen dem regierungsfreundlichen Kurs des Journalisten Marx, der sich gern als selbst ernannter Repräsentant der Juden in Deutschland gerierte und sich teils für Regierungszwecke instrumentalisieren ließ, und des eher regierungskritischen Kurses des Juristen van Dam. Die große Leistung van Dams bestand darin, den Zentralrat nach innen zu einen und als Vertretung der jüdischen Gemeinschaft nach außen zu etablieren, was sowohl auf nationaler Ebene (u.a. durch Sicherung von Bundeszuschüssen für die Kulturarbeit und durch die Beteiligung der Juden in und aus Deutschland an den Globalzahlungen der Wiedergutmachung) als auch auf internationaler Ebene durch die Aufnahme in den Jüdischen Weltkongress gelang.
Die Arbeit ist für die 1950er Jahre überzeugend und verdienstvoll, für die 1960er Jahre dagegen defizitär bezüglich der Vergangenheitsbewältigung. Die intensive Prozessberichterstattung in der Jüdischen Allgemeinen wird kaum gewürdigt, der Eichmann-Prozess (345) wird nur kursorisch, die Auschwitz-Prozesse werden gar nicht erwähnt. Dass Zentralrat und Jüdische Allgemeine hier intensiv gefordert waren, bleibt unberücksichtigt. Insgesamt ist die Darstellung aber lesefreundlich und schließt eine Forschungslücke zur deutsch-jüdischen Geschichte der Nachkriegszeit.
Edith Raim