Frank Bösch (Hg.): Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970-2000, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 491 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30083-1, EUR 34,99
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Seit Christoph Kleßmanns beachtenswerter Studie zur doppelten deutschen Zeitgeschichte wurden immer wieder Forderungen nach einer integrierten deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte laut. Zwar liegen für viele Einzelthemen bereits einschlägige Studien vor, eine Gesamtdarstellung gehört jedoch weiterhin zu den Desideraten. Noch immer dominiert die getrennte Darstellung von Bundesrepublik und DDR. Freilich ist eine isolierte Betrachtung beider deutscher Teilstaaten methodisch wesentlich leichter zu stemmen, im Ergebnis wird dabei jedoch stets mehr oder weniger bewusst das fragwürdige Narrativ der DDR als Negativfolie zur Bundesrepublik lanciert. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist es jedoch an der Zeit, neue Wege zu beschreiten und die DDR als ernstzunehmenden Teil der deutschen Geschichte historisch-kritisch zu betrachten. Einen Beitrag dazu verspricht der von Frank Bösch herausgegebene Sammelband, der vorwiegend aus Aufsätzen von Mitarbeitern des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam besteht.
Zeitlich schließt der Band gewissermaßen an die bereits erwähnten Darstellungen Kleßmanns an, denn diese reichen nur bis zum Jahr 1970. Gleichwohl geht der Sammelband methodisch einen anderen Weg und knüpft an das seit einigen Jahren diskutierte Konzept "Nach dem Boom" an, welches die Jahre von 1970 bis 2000 als eine Phase sich verändernder gesellschaftlicher und staatlicher Ordnungsvorstellungen begreift. Die europäische Geschichte seit 1970 wird dabei nicht als Nachkriegsgeschichte, sondern als Vorgeschichte der Gegenwart behandelt. Obwohl das Konzept im Speziellen auf die westliche Hemisphäre rekurriert, ließen sich - so Bösch - sowohl diesseits als auch jenseits des Eisernen Vorhangs Veränderungen feststellen, die von blockübergreifenden Entwicklungen entfacht wurden und auf die beide Staaten entsprechend reagieren mussten. Ziel ist eine "trans-staatliche Geschichte einer später wiedervereinten Nation" (7). Wie der Titel bereits sagt, steht jedoch die vergleichende "geteilte Geschichte" im Vordergrund, Verflechtungen zwischen beiden deutschen Teilstaaten werden dagegen nicht systematisch berücksichtigt, obgleich der Herausgeber dies beansprucht: "Inwieweit lässt sich die Zeit 'nach dem Boom' also als geteilte Geschichte fassen, die sowohl die Differenzen als auch Parallelen, Reaktionen und Interaktionen ausmacht?" (26)
Inwiefern werden die Einzelstudien dem Anspruch an eine gesamtdeutsche Geschichte im Sinne des Herausgebers nun gerecht? Überzeugen können die meisten Beiträge, wenn es um die Frage geht, in welchem Maße die unterschiedlichen Strukturen trotz der Wiedervereinigung noch immer wirksam sind und die Gesellschaft spalten. Hier betonen die Autoren, dass nicht nur Ostdeutschland vor der Herausforderung der Integration in die Bundesrepublik stand, sondern das wiedervereinigte Deutschland zugleich auf westeuropäische und in einigen Fällen die Bundesrepublik sogar auf ostdeutsche Herausforderungen reagieren musste. Dabei kommt der Band zu abwägenden, wenngleich nicht gänzlich unbekannten Urteilen, die auch die Schattenseiten der im öffentlichen Diskurs häufig reproduzierten Erfolgsgeschichte des wiedervereinigten Deutschland zur Sprache bringen. Frank Bösch und Jens Gieseke weisen etwa darauf hin, dass die Ost-West-Differenzen zunehmend von einem Nord-Süd-Gefälle überlappt wurden. Zudem machen sie deutlich, dass die vieldiskutierte "Politikverdrossenheit" nicht nur ein ostdeutsches Phänomen ist, sondern ebenso für die Bundesrepublik in den frühen 1990er Jahren diagnostiziert wurde. Ralf Ahrens und André Steiner lassen keinen Zweifel daran, dass auch die Bundesrepublik ungelöste Probleme in die Wiedervereinigung einbrachte, etwa die Überlastung der Sozialsysteme. Frank Uekötter zeigt, dass die Verbindung zwischen bundesdeutschen Grünen und der Umweltbewegung der DDR keinen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Partei nach 1990 hatte. Auch ließe sich unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit nicht eindimensional von einer gescheiterten DDR und einer erfolgreichen Bundesrepublik reden. Vielmehr seien beide in dieser Hinsicht gescheitert, die eine Seite spektakulär, die andere unspektakulär. Emmanuel Droit und Wilfried Rudloff machen mit Blick auf das Zwei-Säulen-Modell im Schulwesen darauf aufmerksam, dass auch ostdeutsche Traditionsbestände Eingang in das wiedervereinigte Deutschland fanden. Maren Möhring nimmt in ihrem herausragenden Aufsatz den Blick von Migranten ein und zeigt, dass gerade diese im Zuge der Wiedervereinigung vielfach mit Ostdeutschen um gesellschaftliche Teilhabe konkurrieren mussten. Weitere interessante Befunde ließen sich anführen. Der transnationale Ansatz erweist sich als Erklärungsmodell für die Zeit seit 1989 insgesamt als fruchtbar.
Anders sieht es für die Phase von 1970 bis 1989/90 aus. Problematisch ist vor allem die starke Verhaftung des Ansatzes am Narrativ der Westernisierung, das für das wiedervereinigte Deutschland zwar durchaus plausibel ist, für das geteilte Deutschland, insbesondere für die DDR, aber nur teilweise trägt. Dies führt letztlich zu altbekannten Einsichten. Die Bundesrepublik habe die westeuropäischen Herausforderungen bestanden, wenngleich hier und da Konflikte auftraten, bei der DDR habe es sich dagegen um einen verspäteten und dann gescheiterten Versuch der Modernisierung gehandelt. Die deutsch-deutsche Geschichte sei vor allem von Entflechtung und Parallelität gekennzeichnet gewesen, weniger aber durch Verflechtung. Zentral für diese nicht überraschenden Einsichten ist der Begriff der Moderne, der bereits vom Herausgeber angeführt wird, ohne ihn aber stärker zu akzentuieren. Einige Beiträge greifen ihn auf, konkretisieren ihn aber jeweils aus ihrem spezifischen Blickwinkel. Zudem wird unter dem Ansatz "Nach dem Boom" ein ganzes Begriffsarsenal versammelt (z.B. Dienstleistungsgesellschaft, Informationsgesellschaft, Konsumgesellschaft, Pluralisierung, Wertewandel), ohne dabei immer trennscharf zwischen zeitgenössischen und analytischen Definitionen zu unterscheiden.
Im Detail können die Beiträge gleichwohl thematisch innovative Akzente setzen, insbesondere wenn deutlich wird, dass sich die Reaktionen in Ost und West auf gemeinsame Herausforderungen gar nicht immer so gravierend unterschieden, wie man es auf den ersten Blick vermuten könnte. Eine wirklich neue Perspektive auf die deutsch-deutsche Geschichte stellt dies aber nicht dar. Unabhängig davon werden nicht alle Beiträge dem Konzept gerecht. So fragt man sich etwa bei der Lektüre des Aufsatzes von Jutta Braun zur deutsch-deutschen Sportgeschichte, was eigentlich die entscheidende Herausforderung der 1970er Jahre war, auf die beide Staaten reagieren mussten. Der "kommerzielle Wandel" im Leistungssport berührte die DDR doch allenfalls mit Blick auf die Olympischen Spiele, nicht aber zwangsläufig im Breitensport. Zahlreichen Beiträgen ist überdies anzulasten, dass sie keine abschließende(n) These(n) anbieten, sondern den Leser mit einer Vielzahl von Einzelergebnissen zurücklassen.
Worin liegt also der Erkenntnisgewinn? Zugespitzt ließe sich sagen, dass der Band über den auf Westeuropa fixierten Ansatz altbekannte Deutungsmuster reproduziert, wenngleich er sie im Detail differenziert. Eine völlig neue Sicht der Dinge bietet er aber nicht. So lässt sich der Band eher als komplementär zu tiefenbohrenden Ansätzen lesen, die verschiedene Sammelbände in den letzten Jahren dargeboten haben. [1] Jedoch greift er Themen auf, die sich für eine künftige integrierte Untersuchung eignen können. Hier bedarf es gleichwohl einer genaueren methodischen Reflexion.
Anmerkung:
[1] Hermann Wentker / Udo Wengst (Hgg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz, Berlin 2008; Detlev Brunner / Andreas Kötzing / Udo Grashoff (Hgg.): Asymmetrisch verflochten? Neue Forschungen zur gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte, Berlin 2013.
Christian Rau