Rezension über:

Klemens Kaps: Ungleiche Entwicklung in Zentraleuropa. Galizien zwischen überregionaler Verflechtung und imperialer Politik (1772-1914) (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien; Bd. 37), Wien: Böhlau 2015, 535 S., ISBN 978-3-205-79638-1, EUR 60,00
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Rezension von:
Stefaniya Ptashnyk
Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Stefaniya Ptashnyk: Rezension von: Klemens Kaps: Ungleiche Entwicklung in Zentraleuropa. Galizien zwischen überregionaler Verflechtung und imperialer Politik (1772-1914), Wien: Böhlau 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 11 [15.11.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/11/31027.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Klemens Kaps: Ungleiche Entwicklung in Zentraleuropa

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Nach der ersten Teilung Polens 1772 fiel das Kronland Galizien an die Habsburger. Über Jahrhunderte hinweg verschiedenen politischen, wirtschaftlichen, demografischen und kulturellen Transformationen ausgesetzt, begleitet von einer oft willkürlichen Grenzziehung, war die Region zu diesem Zeitpunkt eine der ärmsten Provinzen der kaiserlich und königlichen Monarchie (neben Siebenbürgen und Kroatien-Slawonien), und das blieb sie bis in das ausgehende 19. Jahrhundert hinein. Mit diesem Kronland waren Topoi vom "Galizischen Elend", seiner "Rückständigkeit" und "Armut" verbunden. Erst im späten 19. Jahrhundert konnte Galizien an die europäischen Industrialisierungsprozesse anschließen und seinen Wohlstand in einem gewissen Rahmen steigern.

Der Wirtschaftshistoriker Klemens Kaps setzt sich in seiner Studie, die als Doktorarbeit im Rahmen des interdisziplinären Doktoratskollegs Galizien an der Universität Wien entstand, mit den Faktoren auseinander, die über einen längeren Zeitraum die wirtschaftliche Entwicklung Galiziens behindert und die periphere Position des Kronlandes verstärkt haben. Zugleich stellt er die übergeordnete Frage, wie sich ungleiche Entwicklungsmuster in Zentral- und Osteuropa herausgebildet haben beziehungsweise herausbilden konnten. Bei der Suche nach Ursachen beschäftigt sich der Verfasser zum einen näher mit der imperialen Politik und zum anderen mit der überregionalen Verflechtung des Kronlandes Galizien, wo der staatlichen Wirtschaftspolitik insofern eine besondere Bedeutung zukam, als "die Provinz ein direktes Produkt der habsburgischen Expansionspolitik war", so Kaps (22).

In seiner Untersuchung geht der Verfasser speziell auf solche wirtschaftlichen Aspekte wie Handel, Kapital, Güterketten, Arbeitskräfte und Migration ein, ferner auch auf den Technologietransfer sowie auf Entwicklungskonzepte und staatliche Regulierung. Indem Kaps alle diese Faktoren beleuchtet, entsteht ein facettenreiches Bild der ökonomischen Entwicklung Galiziens 1772-1914.

Die Arbeit besticht in erster Linie durch den Reichtum und die Vielfalt des ausgewerteten Materials, das das komplexe Leben der galizischen Gesellschaft im Besonderen sowie der Habsburgermonarchie im Allgemeinen vor dem Hintergrund der imperialen Politik widerspiegelt. Zahlreiche Tabellen, Diagramme und Abbildungen liefern dem Leser eine Fülle an Sachinformationen, unter anderem über das wachsende Einkommen der galizischen Bevölkerung, das Wachstum der Produktion, landwirtschaftliche Erträge, Einfuhr und Ausfuhr aus Galizien, über die Handels- und Warenstrukturen und vieles mehr.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Teil A schildert zunächst die Entwicklung Galiziens im Längsschnitt. Dabei stehen Subthemen wie das Einkommensniveau oder die Produktions- und Austauschsphären im Vordergrund. Aufgrund dieser wirtschaftlichen Daten unterscheidet Kaps innerhalb des untersuchten Zeitraums drei größere Entwicklungsphasen, eingerahmt jeweils von Wendepunkten, die sich ihrerseits "in strukturellen Krisen" manifestierten (198).

Phase I (1772-1830) zeichnete sich durch die Etablierung imperialer Herrschaft, die Umstrukturierung überregionaler Verflechtungen sowie desintegrative Prozesse aus, die zu einer Stagnation und sogar Rezession in der Region führen. Eingeleitet durch die politisch-militärischen Ereignisse von 1772, dauerte diese Phase bis zum Ende der sogenannten "post-napoleonischen Depression". Phase II (1830-1873) beschreibt der Verfasser als Zeit der zunehmenden überregionalen Verflechtung, nicht zuletzt dank neuer Eisenbahnverbindungen, wodurch die Transportkosten gesenkt werden konnten. Insgesamt begreift Kaps diesen Zeitabschnitt als eine Phase der "absteigenden Peripherisierung" (201).

Phase III (1873-1914), die nach der Weltwirtschaftskrise von 1873 ihren Anfang nahm, bedeutete für Galizien eine verstärkte Verflechtung mit anderen Räumen, insbesondere beim Gütertausch sowie im Technologie- und Kapitaltransfer, aber auch bei der Bevölkerungsmigration. Die staatliche Investitionspolitik und der Transfer von Technologien stützten die steigende landwirtschaftliche Produktivität. Dennoch konstatiert Kaps anhand der wirtschaftlichen Daten, dass die Peripherisierungstendenzen in Galizien nicht kompensiert werden konnten, was unter anderem eine starke Auswanderung aus Galizien zur Folge hatte.

In Teil B - Querschnitte - richtet sich der Blick auf galizische Akteure und Institutionen einerseits sowie auf die ökonomischen Diskurse andererseits, die Kaps innerhalb der in Teil A herausgearbeiteten historischen Zeiträume nachzeichnet. Diese Herangehensweise ermöglicht es ihm nicht nur, die ökonomischen Prozesse zu analysieren, sondern auch, die Art und Weise ihrer Entstehung, zum Beispiel durch politische Regulierung, zu betrachten. Dabei konstatiert der Verfasser, dass sehr bald nach der Eingliederung in die Habsburgermonarchie der Status Galiziens vordergründig in Relation zu den Interessen anderer Regionen beziehungsweise zu denen des politischen Zentrums definiert wurde (vergleiche 440). Zwar entwarf die Regierung in Wien gewisse Konzepte zur regionalen Entwicklung, diese hatten jedoch nicht so sehr das tatsächliche "Wohlergehen" der Region und ihren eigentlichen Fortschritt zum Ziel, sondern dienten vielmehr der Verwirklichung anderer politischer Ziele der Regierung. Staatlicherseits investiert wurde recht intensiv in den Ausbau der Verwaltung, aber nur in geringem Maße in den gewerblichen Bereich oder in die Landwirtschaft.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verschärften sich die wirtschaftlichen Konfliktlinien entlang der sozio-ethnischen Konflikte in Galizien, und nationale Segregation trat an die Stelle integrierender Entwicklungsperspektiven. Der Zugang zu den Ressourcen wurde auf der Grundlage kultureller Codes geregelt.

Mit seiner Studie hat Kaps eine gründliche Untersuchung über die wirtschaftliche Situation und die Entwicklung des Kronlandes Galizien und Lodomerien im Zeitraum von 1772 bis 1918 vorgelegt, die nicht nur für Historiker, sondern auch für Forscher anderer Disziplinen von Interesse ist. Denn der hier gebotene Einblick in die wirtschaftlichen Zusammenhänge ermöglicht ein besseres Verständnis der sozialen, politischen, kulturellen und nationalen Prozesse des langen 19. Jahrhunderts, und zwar nicht nur in Galizien, worauf der Hauptfokus liegt, sondern auch in anderen Kronländern, die ein ähnliches Schicksal der "Peripherisierung" erfahren haben.

Stefaniya Ptashnyk