Michael C. Bienert / Matthias Oppermann / Kathrin Zehender (Hgg.): »Die Freiheit geschieht nicht an uns, sie geschieht durch uns«. Richard von Weizsäcker und die deutsche Politik (= Zeitgeschichte im Fokus; Bd. 7), Berlin: BeBra Verlag 2022, 213 S., 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-95410-106-1, EUR 19,95
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Bis heute gilt Richard von Weizsäcker als virtuoser Rhetoriker, Intellektueller und Role Model im Amt des Bundespräsidenten - eine Deutung, die selbst in der neueren kritischen Zeitgeschichtsforschung durchscheint. [1] Weniger bekannt ist dagegen sein Wirken als Christdemokrat, Außenpolitiker oder als Regierender Bürgermeister. Grund genug für die Konrad-Adenauer-Stiftung und das Ernst-Reuter-Archiv, dem Staatsmann einen Sammelband zu widmen. Das Buch ist das Ergebnis eines "Geburtstagssymposions" (13), das - wegen der Corona-Pandemie verspätet - im April 2021 ausgerichtet wurde, anstelle einer ursprünglich geplanten wissenschaftlichen Tagung. Aus diesem Entstehungszusammenhang erklärt sich auch der Doppelcharakter des Bandes, in dem etablierte Forscherinnen und Forscher der "Verschränkung von politischem Denken und Handeln" (13) beim Protagonisten nachspüren, der sich zugleich aber als "umfassende Würdigung" (13) für dessen "herausragende politische Lebensleistung" (10) versteht. Die schwierige Balance zwischen wissenschaftlicher Analyse und politischer Würdigung gelingt einigen Beiträgen besser als anderen.
Zur ersten Kategorie gehören die Aufsätze der beiden Mitherausgeber Matthias Oppermann und Kathrin Zehender. Oppermann nähert sich auf instruktive Weise dem Preußenbild des Protagonisten und seiner Haltung zur Nation - zwei Fragen, die für Weizsäckers Denken und Wirken von großer Bedeutung waren. Dabei deutet der Autor die Preußen-Verehrung des gebürtigen Schwaben weniger als Gegensatz denn als Ausweis seiner (national-)liberalen Gesinnung. Über das Verhältnis zwischen liberalem und konservativem Denken bei Weizsäcker informiert auch der Beitrag von Kathrin Zehender, die sich seiner Tätigkeit als Vorsitzender der CDU-Grundsatzprogrammkommission in den 1970er Jahren widmet. Weizsäcker erscheint hier als Protagonist der innerparteilichen Modernisierung, der letztlich aber auf familien- und wirtschaftspolitischem Gebiet in die Defensive geriet. Das Programm von Ludwigshafen, so kann man Zehender verstehen, geriet am Ende sogar moderner, als es Weizsäcker vorschwebte - ein ebenso interessanter wie überraschender Befund. Weizsäckers Denken steht auch im Mittelpunkt des Aufsatzes von Gangolf Hübinger, der nach den religiösen Prägungen des "protestantischen Mafioso" (28) fragt. Dabei geht es weniger um dessen konkrete religiöse Vorstellungen als um den Einfluss kulturprotestantischer Traditionen auf die Weizsäckersche Denkart. Deren "Spezifikum" sieht Hübinger - man hätte es sich noch spezifischer gewünscht - in ihrer "geschichtsreligiöse[n] Semantik zur Prägung eines verantwortungsethischen Geschichtsbewusstseins". (46)
Während diese drei Beiträge im Verhältnis Denken/Handeln stärker auf den ersten Aspekt abzielen, untersuchen Michael C. Bienert und Karl-Rudolf Korte das Handeln des Amtsträgers Weizsäcker. In seinem Aufsatz über dessen Amtszeit als Regierender Bürgermeister von Berlin legt Bienert ein eindrückliches Porträt der Berliner Stadtpolitik Anfang der 1980er Jahre vor, die von ökonomischen Problemen, steigenden Mieten und Konfrontationen zwischen Polizei und Protestierenden geprägt war. Dass Weizsäcker dabei "Politik mit Augenmaß" betrieb - so bereits der Titel des Beitrags - und dass es ihm gelang, trotz widriger Umstände eine positive Bilanz vorzuweisen, steht für den Autor außer Frage. Ähnlich erfolgreich erscheint der Staatsmann bei Karl-Rudolf Korte, der sich überraschenderweise als einziger Autor des Bandes eingehender mit der Amtsführung des Bundespräsidenten Weizsäcker beschäftigt, genauer mit dessen Moskau-Reise 1987. Auf Basis der Unterlagen des Bundespräsidialamtes stellt Korte eine "koordinierte Arbeitsteilung" (172) zwischen Präsident und Kanzler fest, die aber einer Ausnahmesituation geschuldet war: Während Kohl nach seinem Newsweek-Interview in Moskau als "persona non grata" (180) galt, glättete Weizsäcker die Wogen und half so, das westdeutsch-sowjetische Verhältnis in einer Schlüsselphase zu verbessern.
Leider halten sich nicht alle Autoren (Kathrin Zehender ist die einzige Autorin des Bandes) an das von Mit-Herausgeber Oppermann gesetzte Ziel, "zwischen den Zeilen" zu lesen und nach der "unmissverständlichen Botschaft" zu suchen, die sich hinter dem "wohlgewählten, sanft anmutenden Vokabular" des Präsidenten verstecke (47). Zwar kommt der Protagonist über viele Seiten selbst zu Wort, seine anmutigen Formulierungen bleiben aber zu oft unhinterfragt. Zu stark scheint der Drang, den Mythos Weizsäcker aufrecht zu erhalten. Nachzusehen ist dies sicherlich Thomas de Maizière, dessen Ausführungen über den "Versöhner" (26) und "erfolgreichen Intellektuellen" (24) als politische Würdigung eines Weggefährten zu verstehen sind. Schwieriger erscheint dagegen der Beitrag des Historikers Ulrich Schlie, der sich der für Weizsäckers Biografie so wichtigen Zeit des Nationalsozialismus widmet.
Schlie scheint in erster Linie das Ziel zu verfolgen, den Präsidenten und seine Familie gegen "pauschale Kritik" in der "Fachliteratur" (89) zu verteidigen. Das Ergebnis ist freilich ein Aufsatz, der im Wesentlichen das Bild nachzeichnet, das Weizsäcker rückblickend selbst von seiner Jugend und Familiengeschichte während der NS-Diktatur entworfen hat, inklusive vielsagender Lücken. Das beginnt mit Weizsäckers Mutter, die Schlie als "unkonventionelle" Frau (89) vorstellt, ohne auf den Vorwurf von Carl Jacob Burckhardt einzugehen, diese sei eine "militante Nationalsozialistin" gewesen (dabei hat Schlie den Brief selbst herausgegeben). [2] Weizsäckers Einlassungen über seinen Vater Ernst wiederum, dieser habe als Staatssekretär des Auswärtigen Amts "über den wahren Charakter der Nazis [...] zu wenig" gewusst, bleiben unkommentiert (92). Die Wehrmacht erscheint bei Schlie als anti-nationalsozialistischer "Rückzugsraum" (95) und als Schule nobler Gesinnung: "Jener Geist des Infanterie-Regiments 9 bezeichnet die Haltung, mit der Richard von Weizsäcker seinen gesamten Kriegsdienst bestritt und die äußeren und seelischen Nöte und Prüfungen überstand". (96)
Von solchen heroisierenden Deutungen setzt sich vor allem der Beitrag von Dominik Geppert positiv ab, der sich der Medienfigur Richard von Weizsäcker zuwendet. Geppert arbeitet dabei nicht nur überzeugend heraus, wie akribisch Weizsäcker als "gewiefte[r] Medienprofi" (192) selbst daran mitwirkte, das öffentliche Bild zu kreieren, das sich vielfach bis heute gehalten hat. Er macht auch vor, wie man die zeitgenössischen Topoi der Weizsäcker-Rezeption nicht einfach wiederholt, sondern rekonstruiert, hinterfragt und kontextualisiert. Geppert trägt damit zu einer Historisierung von Weizsäckers Biografie bei, die dieser Band zum 100. Geburtstag nur ansatzweise erfüllen kann.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Norbert Frei: Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit 1949-1994, München 2023, dort v.a. 287; dazu auch meine Rezension, in: Online-Rezensionen des Jahrbuchs zur Liberalismus-Forschung 2024/1, https://www.freiheit.org/sites/default/files/2024-04/22-online-24-1-frei-holzhauser.pdf.
[2] Carl Jacob Burckhardt an Marion Gräfin Dönhoff, 19.7.1957, in: Marion Gräfin Dönhoff und Carl Jacob Burckhardt, "Mehr als ich Dir jemals werde erzählen können". Ein Briefwechsel, hg. von Ulrich Schlie, Hamburg 2008, 130.
Thorsten Holzhauser