Michael Borgolte / Bernd Schneidmüller (Hgg.): Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa. Vorträge und Workshops einer internationalen Frühlingsschule (= Europa im Mittelalter; Bd. 16), Berlin: Akademie Verlag 2010, 342 S., ISBN 978-3-05-004695-2, EUR 69,80
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Dieser Sammelband ist das Ergebnis einer Internationalen Frühlingsschule, die im Rahmen des Schwerpunktprogramms 1173 "Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter" (Laufzeit: 2005-2011) im Jahre 2008 in Schwerte an der Ruhr durchgeführt worden ist. Als Ausgangspunkt dieser Veranstaltung und gleichsam schon Resultat der ersten drei Jahre intensiver Beschäftigung mit dem Thema diente die Erkenntnis, dass wir für Europa in dieser Zeit konstatieren müssen, dass die dort auszumachenden Gesellschaftsformationen im Regelfall als hybrid zu bezeichnende Kombinationen unterschiedlicher kultureller Elemente, Versatzstücke und Traditionen darstellen, die sich fortwährend im "Aggregatzustand permanenten Wandels" (7) befinden. Den Leser erwarten neben einer Einleitung und einem Ausklang drei Teile ("Sektionen") mit insgesamt 17 Beiträgen. Da es nicht sinnvoll ist, einfach die Titel der einzelnen Artikel aneinanderzureihen, möchte ich auf einige wenige eingehen, die mich persönlich angesprochen haben - eine vollkommen subjektive Auswahl also. Wichtig ist natürlich stets die Einführung, in der die konzeptionellen Richtlinien der Tagung und die für die Teilnehmer/innen zentralen theoretischen Hinsichten und die daraus abgeleiteten Fragestellungen erörtert werden sollten. Juliane Schiel, Bernd Schneidmüller und Annette Seitz formulieren dementsprechend noch einmal die übergeordnete Absicht des Schwerpunktprogramms. ["Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa - eine Einführung" (9-24)] Bei der Suche nach größeren Einheiten als Völkern, Stämmen und Nationen, die sowohl innerhalb Europas als auch darüber hinaus geschichtliche Wirkung entfaltet hätten, böten sich vor allem die gemeinschaftsbildenden monotheistischen Religionen an. Aus diesem Grund hatte es man sich zur Aufgabe gemacht zu ergründen, wo religiöse Gegensätze weiterreichende lebensweltliche Differenzen gestiftet haben und wo Gemeinsamkeiten jenseits religiöser Differenzen zur europäischen Integration beitragen konnten. Dabei sah man Europa nicht als (kulturell, politisch, wirtschaftlich) geschlossene Region an, sondern ging von einem euromediterranen Interaktionsraum aus. Synergieeffekte des Verbundvorhabens sah man zunächst in der Transdisziplinarität, d.h. insbesondere in dem Zusammenwirken der traditionell auf "Europa" beschränkten mediävistischen Fächer mit den auf außereuropäische Bereiche konzentrierten Disziplinen (Islamwissenschaft, Judaistik, Byzantinistik etc.). Hinzu kam die Fokussierung auf transkulturelle Phänomene, d.h. auf die ständigen Austauschprozesse unter den Kulturen und ebenso innerhalb semiotisch zusammenhängender Gemeinschaften. Schließlich sollte die Vorstellung eines teleologischen Geschichtsverlaufes aufgegeben werden. Man wollte nicht den Anfängen, An- oder Vorzeichen einer (europäischen) "Neuzeit" oder gar "Moderne" nachspüren, sondern vielmehr die Verschränkung gegenläufiger Entwicklungen, die Gleichzeitigkeit von Ungleichem und Aushalten von Spannungen und Widersprüchen in den Vordergrund der Betrachtung stellen. Behalten wir diese Vorgaben einmal im Hinterkopf und schauen uns exemplarisch an, ob und wie sie in den einzelnen Foren der Tagung umgesetzt worden sind. In der Sektion A ("Wahrnehmung und Akzeptanz der Differenzen: Die Identifikation des Eigenen, des Fremden und des Anderen im europäischen Geschichtsprozess") greife ich mir einmal den Beitrag von Svetlana Luchitsky über "Christian-Muslim Perceptions in the Epoch of the Crusades (Narratives and Visual Sources)" (79-88) heraus. Luchitsky geht es um die Frage, in welchem Maße sich in der Kreuzzugszeit durch die direkte Begegnung mit den Muslimen mittelalterliche europäische Stereotype hinsichtlich des Islams und seiner Anhänger geändert hätten. Dabei gelte es, zwischen den Kreuzzugschroniken, den "Chansons de geste" und der Ikonographie in den schriftlichen Texten zu unterscheiden. So analysiert die Verfasserin in der von ihr ausgewählten Chronik "Historia rerum in partibus transmarinis gestarum" aus der Feder Wilhelms von Tyrus (1130-1186) nicht den Text, sondern die Miniaturen des Handschrift BNF, Paris, Ms. Fr. 9083. Im Gegensatz zu der Narration, die ohne das ansonsten übliche, ideologisch bedingte Pathos auskommt, stellen die symbolbehafteten Bilder die Muslime unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel (Größe, Farben, Erscheinung, Physiognomie, Kleidung, Waffen) überaus konventionell dar, nämlich als perfide Götzendiener mit abartigen moralischen Vorstellungen und sündhaften Sitten und Gebräuchen. Ein netter Aufsatz, der jedoch auf die übergeordneten Fragen des SPPs nicht weiter eingeht.
Aus der Sektion B ("Der Umgang mit Differenzen durch Begegnung und Austausch, Anpassung und Seitenwechsel, Gewalt und Recht") habe ich mir dann John Tolans Studie über "The Legal Status of Religious Minorities in the Medieval Mediterranean World: A Comparative Study" (141-150) näher angeschaut. Wie wir wissen, war es im Mittelalter üblich, dass es Minoritätsreligionen unter gewissen Bedingungen gestattet war, ihre Religion auszuüben und interne Konfliktfälle nach eigenem Recht zu lösen. Interessant wäre durchaus, sich diese generellen Konditionen bezüglich des Rechtsstatus religiöser Minderheiten in der Mittelmeerwelt einmal en detail in verschiedenen Regionen anzusehen und dann miteinander zu vergleichen. Da dies tatsächlich nur im Verbund geleistet werden kann, begnügt sich Tolan damit, sich im Anschluss an eine kurze Einführung in die komplexe Thematik zwei Beispiele anhand von Rechtsdokumenten anzusehen. Zunächst geht es um Muslime, die im 12. Jahrhundert im normannischen Sizilien lebten. In einer Fatwa sondiert der im Mahdiya tätige Religionsgelehrte al-Mazari (st. 1141) erst allgemein, dann konkret die Zulässigkeit, als Gläubiger unter einer Fremdherrschaft zu leben. Al-Mazari kommt zu dem Schluss, dass es durchaus erlaubt und auch möglich sei, innerhalb des Dar al-Harb ein gottesfürchtige Leben zu führen. Der andere Fall betrifft europäische Christen mit einem Lebensmittelpunkt in Tunis. Aus der Feder des Dominikanermönches Raymond von Penyafort (st. 1275) ist ein Brief aus dem Jahre 1235 an zwei Ordensbrüder in der nordafrikanischen Stadt erhalten. Die beiden hatten sich mit einem Schreiben an den Papst gewandt, in welchem sie um Antworten auf 40 Fragen verlangten, die ihnen angesichts der Probleme der Christen vor Ort gekommen waren. Raymond ließ ihnen daraufhin im Auftrag des Kirchenoberhauptes die "Responsiones ad dubitabilia circa communicationem christianorum com sarracenis" zukommen. Sie gewähren uns einen einmaligen Einblick in die inneren Verhältnisse einer katholischen Gemeinde in muslimischem maghrebinischem Umfeld, die sich in erster Linie aus italienischen und katalanischen Kaufleuten und Händlern, Kreuzfahrern, Gefangenen und Wallfahrern zusammensetzte. Alles in allem zeigen sowohl al-Mazari Rechtsgutachten wie auch Raymonds Antworten, dass mittelalterliche Juristen mit Realismus und Pragmatismus auf die jeweils existierenden Umstände - jenseits strenger normativer Vorgaben - reagieren konnten
In der Sektion C ("Transfer- und Vergleichsforschung: Auf der Suche nach den Ursachen für Ausgleich und Entzweiung im mittelalterlichen Europa") fiel die Wahl auf zwei in meinen Augen vielversprechende Artikel. Wolfram Drews und Almut Höfert diskutieren in ihrem Beitrag "Monarchische Herrschaftsformen im transkulturellen Vergleich. Argumentationsstrategien zur Rechtfertigung von Usurpationen am Beispiel der Karolinger und Abbasiden" (229-244) die Möglichkeiten einer komparativ angelegten Untersuchung, die "über die historiographisch gesetzten Zivilisationsgrenzen hinausgeht und Phänomene in zwei (oder mehr) räumlichen Einheiten vergleicht, die von der Forschung zwei (oder mehr) unterschiedlichen Zivilisationen zugeordnet werden." (229) Damit wollen sie insbesondere auch einen Vergleich zwischen christlichen und islamischen Gesellschaften ermöglichen, der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als mehr oder minder unmöglich gilt, da man es mit zwei völlig unterschiedlichen und somit unvergleichbaren "Kulturen" (oder "Zivilisationen") zu tun habe. Der Artikel ist natürlich wichtig, da er die grundsätzlichen Arbeitsbedingungen des Schwerpunktprogramms zusammenfasst und an einem Exemplum ausgezeichnet durchexerziert, doch geht es nicht über das hinaus, wozu ich mich bei anderer Gelegenheit schon positiv geäußert habe [1].
Bleiben noch Benjamin Z. Kedars und Cyril Aslanovs Bemerkungen zu "Problems in the Study of Trans-Cultural Borrowings in the Frankish Levant." (277-286) Die Autoren stellen auf der Basis ihrer bisherigen Untersuchungen einen interessanten Kriterienkatalog zur kulturellen Aneignung im Mittelalter auf: "The first type of evidence is a written statement that explicitly announces that a borrowing took place." (278) "The second type is also textual; but it is not an explicit statement about borrowing, it is the mere mention of a term." (279) "The third type is a trait's diffusion in a geographical space whose chronological progress is clearly attested." (281) "The fourth type of evidence is the outcome of a historian's observation that a bundle of interrelated, specific traits, well known in Culture A, suddenly makes its appearance in Culture B. No contemporary written statement, or borrowed term exists in this case; but the historian argues that the prior, well-documented presence of the inter-related bundle of specific traits in Culture A, render highly probable the possibility that Culture B borrowed the bundle of traits from Culture A." (281) Die Verfasser geben zwar einige gute Beispiele für die jeweiligen Fälle, doch bin ich mir nicht sicher, ob sie nicht die Komplexität von Akkulturationsprozessen unterschätzen. Die Typologisierung kommt zu einfach daher. Ich bin ebenfalls der Überzeugung, dass Historiker bisweilen wie Ethnologen, Soziologen oder Anthropologen denken sollten, doch dann müssen wir auch deren theoretischen und methodischen Ansätze durchdringen, um von diesen zu lernen und sie sinnvoll auf unser Material anzuwenden.
Wie ist nun der Gesamteindruck nach dieser Auswahllektüre? Das Schwerpunktprogramm hat in seinem Halbzeitbericht noch einmal gezeigt, dass es sehr sinnvoll gewesen ist, die starren Grenzen der auf Europa gerichteten Mediävistik durch die Aufgabe einer geradlinig aufwärts verlaufenden Entwicklungslinie aufzulösen und transdisziplinäre und transkulturelle Ansätze aufzugreifen und in der gemeinsamen Arbeit umzusetzen. Dennoch fehlt auch diesem Sammelband bei allen wichtigen Einzelergebnissen die theoretische und konzeptionelle Kohärenz. [2] Man hätte sich eventuell im Vorfeld der Veranstaltung noch einmal über die Schlüsselbegriffe "Integration", "Desintegration", Hybridität", "Transkulturalität", "Vergleich", "Religion" und "politische Ordnung" verständigen sollen, um dann anhand verbindlicher Arbeitsdefinitionen komparatistische Arbeiten zu ermöglichen. Es fehlen einfach die aus der Theorie überzeugend abgeleiteten Leitfragen, ein geschärften Begriffsinstrumentarium und ein klares tertium comparationis. Irgendwie kann ich mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass diese Erkenntnis unterschwellig auch in dem Epilog von Michael Borgolte ["Über den Tag hinaus. Was nach dem Schwerpunktprogramm kommen könnte" (309-328)] mitschwingt. Denn hier postuliert er nicht nur überzeugend, dass man in Bezug auf das Mittelalter "statt vom monotheistischen Europa oder Euromediterraneum von der monotheistischen Weltzone vom Atlantik bis zum Arabischen Meer sprechen" (320) müsste, sondern skizziert auch die Vision, dass ein neues, nur interdisziplinär und in transkultureller Absicht realisierbares Forschungsvorhaben Symbiosen und Konflikte von Monotheisten in Europa und Vorderasien unter dem Aspekt religiöser Räume behandeln könnte. "Einerseits ginge es", so schreibt er, "in streng historischer Absicht nur um den Kulturbereich der Religionen, andererseits, orientiert am Parameter des Raumes, nicht mehr um exemplarische Studien, sondern um ein systematisch zu behandelndes Feld." (321) Dem kann ich mich nur anschließen, denn damit hätte man eine ausgezeichnete Vergleichsachse.
Anmerkungen:
[1] Rezension zu: (Themenheft) Transkulturelle Komparatistik: Beiträge zu einer Globalgeschichte der Vormoderne. Hrsg. von Wolfram Drews und Jenny Rahel Oesterle = Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsordnung 14, Heft 3-4 (2008), in: Das Mittelalter 16 (2011), 166-167 und zu Wolfram Drews: Die Karolinger und die Abbasiden von Bagdad. Legitimationsstrategien frühmittelalterlicher Herrscherdynastien im transkulturellen Vergleich. Berlin 2009, in: Das Mittelalter (im Druck).
[2] Rezension zu: Michael Borgolte / Juliane Schiel / Bernd Schneidmüller (u.a.) (Hgg.): Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft. Berlin 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.4.2010], URL: http://www.sehepunkte.de/2010/04/16362.html
Stephan Conermann